Kindertherapien sind oft unnötig
Murnau/Berlin (dpa/tmn) - Paulchen zum Physiotherapeuten, die kleine Marie zur Logopädin und Emil in die Krankengymnastik - sieht so der Alltag einer Familie aus, sollten sich die Eltern Gedanken machen.
Denn Therapien für Kinder sind manchmal auch zu viel des Guten.
Zwölf Monate alt und schon Therapieerfahrung - manche Kinder haben vor dem ersten eigenen Dreirad ihren ersten eigenen Logopäden, Krankengymnasten oder Ergotherapeuten. Auswertungen von Krankenkassendaten zeigen: Ärzte verschreiben immer mehr Kindern immer häufiger Therapien. Unterliegt die Gesellschaft einem wahren Förderwahn, oder brauchen Kinder tatsächlich immer früher eine Behandlung? Experten sagen, an beidem ist etwas dran.
Fast jeder vierte Sechsjährige hat schon eine sprachtherapeutische Behandlung hinter sich. Das geht aus dem Heilmittelbericht 2011 des wissenschaftlichen Instituts der AOK (WidO) hervor. Eine Ergotherapie bekamen im Jahr 2010 14 Prozent der sechsjährigen Jungen und 5,6 Prozent der gleichaltrigen Mädchen - Tendenz seit Jahren steigend.
Die Gründe für den Therapieboom seien vielfältig, sagen Ärzte und Therapeuten. Einerseits herrsche in der Gesellschaft ein hoher Leistungsdruck und Perfektionismus. „Wir erleben einen Großteil von Eltern, die Teilschwächen der Kinder einfach wegtherapieren lassen wollen“, sagt Stephan Springer, Chefarzt der Klinik Hochried in Murnau. Auch der Berliner Kinder- und Jugendarzt Ulrich Fegeler hat beobachtet, dass jedes kleinste Lispeln als dramatisch wahrgenommen werde und viele Eltern sofort eine therapeutische Behandlung fordern. „Da steckt natürlich auch eine riesige Industrie dahinter“, kritisiert er.
Andererseits zeigten sich bei vielen Kindern tatsächlich teils erhebliche Schwierigkeiten im Bereich motorischer und sprachlicher Fähigkeiten. „Es gibt einfach viele anregungsarme Familien, das ist ein großer Teil des Problems“, hat Fegeler in seiner Praxis beobachtet. Zu wenig Bewegung, zu viel Fernsehen, zu wenig sprachlicher Kontakt, lautet sein Fazit. Körperliche Ursachen hätten im Verlauf der vergangenen Jahre keineswegs zugenommen. Dennoch steige der Förderbedarf bei Kindergarten- und Grundschulkindern stetig.
Aber muss es immer gleich eine Therapie sein? Nein, sagen die Fachleute. Von zentraler Bedeutung sei die richtige Diagnose - und die gebe es in Deutschland oft nicht, kritisieren Ärzte und Therapeuten. „Wir müssen sehr sorgfältig unterscheiden zwischen Kindern, die einer allgemeinen Förderung bedürfen, und Kindern, die tatsächlich eine Therapie benötigen“, sagt Arnd Longrée, Vorsitzender des Deutschen Verbands der Ergotherapeuten.
Im jetzigen System liege die Verantwortung, dies zu entscheiden, allein bei den Ärzten. Besser sei es aber, bei nicht eindeutigen Fällen auch die Therapeuten in die Diagnose einzubeziehen. Der Kinderarzt Fegeler fordert: „Ärzte müssen auch mal sagen: 'Nein, ich verschreibe keine Therapie'.“
Kinder, die tatsächlich Therapiebedarf haben, gehörten dagegen so früh wie möglich in Behandlung, fordert Springer. Nur so könnten sie effektiv und schonend behandelt werden. Auch Longrée sieht hier Handlungsbedarf. „Oft kommen Kinder, die es wirklich nötig haben, viel zu spät zu uns. Dabei hätte man die Warnzeichen schon früh erkennen können.“ Beide fordern im Gesundheitssystem einen Ausbau der frühen Hilfen und somit rechtzeitiger Förderung und Therapie.
Das Credo der Fachleute: Kinder, die es nötig haben, müssen therapiert werden, alle anderen brauchen im Alltag bessere Förderung. Eltern und Kitas seien gefordert. Fegeler wird deutlich: „Glotze aus!“ Jeden Abend fünf Minuten eine Geschichte vorlesen und dann gemeinsam drüber reden: Das trainiere richtiges Sprechen und Sprachverständnis.
Eltern sollten ihre Kinder so oft wie möglich in alltägliche Handlungen einbeziehen, rät Longrée. „Tisch decken, in der Küche mitarbeiten - auch mal mit dem Messer.“ Kleine Kinder, die zum Beispiel auch mal Kartoffeln schälen dürften, seien begeistert von der Arbeit, die sonst den Erwachsenen vorbehalten sei. So erlernten sie Grundfertigkeiten gewissermaßen nebenbei. „Eltern sollten Kinder lieber 30 Minuten in Alltagsaktivitäten einbeziehen, als sich hinterher gehetzt zehn Minuten Memory aus den Rippen zu schneiden.“
Auch Springer plädiert für mehr Muße und Gelassenheit im Alltag. „Eltern sollten wieder mehr Bereitschaft haben, Kinder und ihre Entwicklung zu genießen, sich auch über Kinder mit Ecken und Kanten freuen. Es müssen nicht alle Kinder gleich sein.“