Romantik oder Individualismus: Wie deutsche Familien leben
Wiesbaden (dpa) - Das eigene Lebensziel entscheidet mit darüber, ob man Kinder bekommt. Von der konventionellen Familie wenden sich viele Menschen in Deutschland ab. Doch in manchen Teilen der Bevölkerung hält sich die Tradition - nicht nur im konservativen Süden.
Ohne Trauschein, ohne Partner, aber mit Kind - so leben heute deutlich mehr Familien in Deutschland als früher. Trotzdem dominiert die Ehe noch und ganz verschwinden werde sie nicht, sagt Jürgen Dobritz vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden. Daneben aber, das zeigen aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamtes (Destatis), wandelt sich das Familienleben in Deutschland - wobei nicht einmal alle Lebensformen erfasst sind.
„Die Statistik sagt nichts über Fernbeziehungen. Das wäre aber eine sehr gute Frage gewesen“, meint BiB-Soziologe Dobritz. Das Motto „Living apart together“ (Getrennt gemeinsam leben) passt in eine Gesellschaft, in der sich die oder der Einzelne nicht mehr so sehr an den traditionellen Werten der Familie orientiert. „Wir nennen das Individualisierung der Gesellschaft“, erklärt der Soziologe. Jeder zehnte junge Mensch wolle kinderlos bleiben, sagt Dobritz.
„Es gibt zugleich einen Bedeutungsverlust der Ehe“, erklärt der Experte - in Deutschland wie auf europäischer und internationaler Ebene. Ursache dafür sei nicht nur, dass Frauen häufiger erwerbstätig sind, sondern veränderte Einstellungen. Nach einer BiB-Umfrage zum Familienleitbild von 2012 lehnen 35 Prozent der Deutschen zwischen 20 und 39 Jahren die Ehe als überholte Einrichtung gänzlich ab.
Derzeit lebt beinahe ein Drittel der 8,1 Millionen Familien in Deutschland - nach den Zahlen des Mikrozensus von 2013 - nicht mehr das konventionelle Muster von Ehepaar mit Kind. Ein Fünftel der Väter und Mütter waren im vergangenen Jahr alleinerziehend, zehn Prozent leben in nichtehelichen oder gleichgeschlechtlichen Partnerschaften mit mindestens einem minderjährigen Kind. Verheiratet sind 70 Prozent der Eltern. Aber 1996 waren es mit 81 Prozent deutlich mehr. Die Zahl der Alleinerziehenden wuchs seither um sechs Prozentpunkte, der Anteil der Lebensgemeinschaften verdoppelte sich.
Verschwinden werde die Einrichtung Ehe dennoch nicht, sagt Dobritz: „Die Ehe hat eine Funktion und wird sie behalten.“ Ein bestimmter Teil der Bevölkerung werde weiter auf die Sicherheit einer Ehe zurückgreifen. „Und auch das Romantische wird bleiben.“
Ohnehin wandelt sich das Familienleben nicht überall in Deutschland gleichermaßen. Laut aktuellem Mikrozensus bleibt gerade in den neuen Bundesländern die Distanz zur Ehe bemerkenswert. In den ostdeutschen Ländern wirkt nach, dass die DDR das Kinderkriegen förderte - auch ohne Trauschein. So seien in Ostdeutschland alternative Lebensformen mit Elternschaft weit verbreitet, betont die BiB-Ökonomin Evelyn Grünheid: „In Westdeutschland herrscht immer noch ein traditionelleres Familienbild vor, in dem die Ehe mit Kindern eine wichtige Rolle spielt.“ Aus diesem Grund seien die meisten Alleinerziehenden im Westen Geschiedene, im Osten Ledige.
Dass die Ehe nicht überall in selbem Maße abgelöst wird von anderen Familienformen, ist auch die Erfahrung der Erzieherin Roswitha Rietsch. Sie leitet seit 20 Jahren die städtische Kindertagesstätte Kastel in Wiesbaden. In ihrem Einzugsbereich habe sich die Bevölkerung seither stark verändert, sagt Rietsch. Heute sei hier der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund hoch. Eine Tendenz zu weniger konventionellen Familienformen beobachtet Rietsch dabei nicht: „Da ist es noch nicht so üblich, dass man sich trennt.“
In einem weiteren Punkt hält sich die traditionelle Rollenverteilung: Mit rund 1,45 Millionen Frauen übertrifft die Zahl der alleinerziehenden Mütter die Zahl der partnerlosen Väter weit. Von ihnen gibt es seit 1996 etwa 170 000 - dabei gibt es so gut wie keine Veränderung.