„75 ist das neue 65“ - Was uns im Alter jung hält
Wiesbaden (dpa) - Wir leben immer länger - „und nichts deutet darauf hin, dass sich die Entwicklung verlangsamt“, sagt der Demograf. Die 868 356 Menschen, die im vergangenen Jahr in Deutschland starben, waren im Durchschnitt knapp über 78 Jahre alt.
Vor zehn Jahren waren die Verstorbenen im Durchschnitt etwas über 76 Jahre alt, weiß das Statistische Bundesamt. Für Prof. James Vaupel, den Leiter des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock ist das „überhaupt nicht überraschend“. Im Vergleich zu anderen Industrienationen wie zum Beispiel Japan hinke Deutschland beim Mehr an Lebenserwartung sogar hinterher.
„Wir erreichen hohes Alter in besserer Gesundheit“, sagt Vaupel. „Anders ausgedrückt: Das Alter setzt verzögert ein. 75 ist das neue 65.“ Das Fundament für ein langes Leben werde in der Kindheit gelegt. „Einer der Hauptgründe, warum wir im Alter gesünder sind, ist die Tatsache, dass wir gesünder waren in unseren ersten Jahren: bessere Ernährung, mehr Vorbeugung, bessere Behandlung im Krankheitsfall.“
Im Laufe des Lebens kämen weitere „Besser“-Faktoren dazu, zum Beispiel bessere Bildung. „Gebildetere Menschen passen besser auf sich auf.“ Vaupels „Besser“-Liste ist lang: „Die Luft ist besser als früher, das Wasser ist sauberer, Straßen sind sicherer, das Einkommen ist höher, das Gesundheitssystem ist leistungsfähiger. Aus all diesen Gründen sind die Menschen heute gesünder als früher.“
Vieles haben wir selbst in der Hand, sagt Vaupel, Beispiel Rauchen: „Wer raucht, stirbt rund zehn Jahre früher.“ Auch gute Ernährung und viel Bewegung haben einen Einfluss. Theoretisch kann das immer so weiter gehen, behauptet der Demograf: „In den Ländern, die sich am meisten bemühen, steigt die Lebenserwartung seit 1840 um zweieinhalb Jahre pro Dekade. Das ist wirklich ein sehr langer Zeitraum - und es gibt kein Anzeichen für eine Verlangsamung.“
Prof. Karl Lenhard Rudolph, Direktor des Leibniz-Instituts für Alternsforschung in Jena, ist da anderer Ansicht: „Die Gene kann man nicht austricksen. Ob wir 70 Jahre alt werden oder 100 liegt zum großen Teil an unserem genetischen Make-up“, sagte er kürzlich in einem dpa-Interview. „Innerhalb der von ihnen vorgegebenen Grenzen können wir aber über die Art und Weise, wie wir leben, erheblich Einfluss nehmen, gesund zu altern. Wenn ich von meinen Genen her 70 Jahre alt werde, kann ich noch so gesund leben, ich werde keine 100.“
Die Einsicht allein nützt nicht so viel, sagt Gesundheitspsychologin Julia Scharnhorst (Wedel): „Leider ist unser Gesundheitsverhalten nur zu einem relativ geringen Teil rational beeinflusst.“ Die meisten Menschen überlegten sich nicht: Ich möchte fünf Jahre länger leben und deswegen fange ich mit Mitte 20 schon mal an zu joggen und mich gesund zu ernähren - und wenn, seien sie dabei nur selten konsequent. „Für langfristiges Denken sind wir psychologisch nicht gestrickt.“
Was der Einzelne nicht schafft, kann die Politik immerhin forcieren. Vaupels Kollege Tobias Vogt hat ausgerechnet, welche Wirkung Investitionen ins Gesundheitssystem haben können - am Beispiel der deutschen Wiedervereinigung. Zwischen Mauerfall und Jahrtausendwende stieg die Lebenserwartung im Osten um fast vier Jahre. Die öffentlichen Sozialausgaben kletterten in diesem Zeitraum von 2100 auf knapp 5100 Euro pro Person und Jahr. Plakativ zusammengefasst heißt das: „Drei Stunden Leben pro Euro.“
2014 starben - wie schon seit Jahren - die meisten Menschen an einer Herz-/Kreislauferkrankung: 38,9 Prozent. Zweithäufigste Todesursache bleibt Krebs: 25,8 Prozent. Vier Prozent aller Todesfälle waren auf eine nicht natürliche Ursache zurückzuführen, etwa eine Verletzung oder Vergiftung. 10 000 Menschen beendeten ihr Leben durch Suizid.