Die kleine Masern-Patientin Aliana kämpft um ihr Leben
Bad Hersfeld (dpa) - Mirella Kunzmann streichelt die kleine Aliana im Rollstuhl liebevoll. Sie gibt ihr zärtlich einen Kuss, und ein Lächeln huscht über das Gesicht des schwerkranken Mädchens. Jedes Lächeln gibt der Mutter wieder Kraft und etwas Zuversicht.
Ihre fünfjährige Tochter leidet an einer unheilbaren Krankheit. Ärzte gaben ihr im vergangenen Winter nicht mehr viel Zeit. Aber Aliana hat die Prognosen fürs Erste widerlegt. „Sie hat einen starken Willen und kämpft ungemein. Totgesagte leben länger“, sagt Mutter Mirella.
In den kommenden Tagen kommt Aliana dem normalen Leben wieder ein Stück näher. Dann besucht das schwerbehinderte Mädchen für 15 Stunden pro Woche eine integrative Kindergartengruppe in ihrer Heimatstadt Bad Hersfeld. „Das ist ein großer Schritt für uns“, sagt die Mutter.
Vor einem Jahr war diese positive Entwicklung nicht absehbar. Alianas Zustand verschlechterte sich erschreckend schnell. Das Mädchen leidet an der chronischen Masern-Gehirnentzündung SSPE (Subakute sklerosierende Panenzephalitis). Die Krankheit ist eine Spätfolge einer Maserninfektion und verläuft immer tödlich. „Wir sind verwundert, aber natürlich auch sehr erfreut, dass es Aliana besser geht. Aber leider schwebt das Damoklesschwert weiter über ihr“, meint Alianas Kinderarzt in Bad Hersfeld, Georg Johann Witte.
„Es gibt bisher leider nichts, was das Kind retten kann“, erklärt SSPE-Experte Martin Terhardt vom Berufsverband der Kinderärzte in Deutschland. „Die Krankheit ist unaufhörlich. Masernviren zerstören Nervenzellen im Gehirn.“ Doch es gebe Phasen, in denen die Virenvermehrung stagniere - eine mögliche Erklärung für Alianas Besserung. Zudem bekommt sie eine neue Interferon-Therapie von Fachleuten des Uni-Klinikums Aachen. Was aber wirklich hilft, ist unklar. SSPE ist noch zu wenig erforscht.
Doch was für Mutter Mirella zählt: „Aliana ist jetzt viel wacher. Sie muss sich nicht so quälen und lacht sogar manchmal“, sagt sie und zeigt ein Handyvideo davon. Im August ging es so gut, dass die Eltern erstmals einen Urlaub mit ihren drei Kindern machten - in den Niederlanden. Bruder Nedzat (9) und Schwester Amelia (6) sind gesund.
Aliana aber ist schwer krank. Sie wird über eine Sonde ernährt. Sie kann nicht sprechen, wie viel sie sieht, ist unklar. Sie kann nicht gehen, und damit sie nicht aus dem Rollstuhl kippt, ist sie mit Gurten fixiert. Hätte Mutter Mirella selbst Masern gehabt oder wäre sie geimpft gewesen, wäre ihrer Tochter wohl nichts passiert. Doch die 28-Jährige ist durchs Raster gefallen, als vor Jahrzehnten zum Teil nur unzureichend geimpft wurde - oder aber gar nicht, weil die Masern-Infektionen deutlich zurückgegangen waren.
Nur Mütter mit Antikörpern können ihren Kindern den sogenannten Nestschutz mitgeben, der das Neugeborene in den ersten Monaten vor Krankheiten bewahren kann. Geimpft werden Kinder in der Regel erst ab dem elften Lebensmonat. Aliana hatte offenbar unbemerkt mit drei Monaten die hochansteckenden Masern bekommen. In einem von 150 bis 300 Fällen besteht nach Angaben des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland bei Säuglingen, die sich vor dem fünften Lebensmonat anstecken, das Risiko, dass nach Masern später diese tödliche Komplikation auftritt.
Um solch ein Leid zu verhindern, sei es wichtig, dass sich vor allem Frauen mit Kinderwunsch über Masern informieren und ihren Impfstatus überprüfen lassen. Zu beachten ist: Während der Schwangerschaft ist es nicht mehr möglich zu impfen, da es sich bei Masern um einen sogenannten Lebendimpfstoff handelt. Gynäkologen sollten ihre Patientinnen darauf ansprechen, empfiehlt SSPE-Experte Terhardt. Gerade in der Frauen-Generation, die in den 1980er und 1990er Jahren geboren und nun im gebärfähigen Alter sei, gebe es Impflücken, warnt der Mediziner aus Berlin.
Trotz der Appelle, das Impfen ernst zu nehmen, ist die Zahl der meldepflichtigen Masern-Infektionen so hoch wie seit zehn Jahren nicht mehr. 2015 wurden mehr als 2400 Fälle gezählt, wie das Robert Koch-Institut berichtet. Allerdings schwankt die Zahl stark und lag seit 2001 zwischen 123 und 6139 Fällen pro Jahr. Zu SSPE-Fällen liegen keine Zahlen vor. Die Krankheit ist nicht meldepflichtig.
Mirella Kunzmann spricht über das Schicksal ihrer Tochter immer mal wieder in Medien, um die Öffentlichkeit auf die Krankheit und Bedeutung von Impfungen aufmerksam zu machen. „Aliana hilft das zwar nicht mehr. Aber ich möchte anderen Menschen helfen und ihnen dieses Leid ersparen. Solang ich Kraft habe, will ich mich dafür einsetzen“, betont sie. Viele Menschen wüssten einfach nicht, wie gefährlich Masern sein könnten. „Kinderkrankheit - das klingt ja schon so harmlos.“ Um noch mehr Menschen zu erreichen, hat Kunzmann die Facebook-Seite „SSPE-ALIANA kämpft um ihr Leben“ eingerichtet.
Wie lange Aliana mit der Krankheit noch leben kann, vermag kein Mediziner vorherzusagen. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte kennt 15 Fälle bundesweit aus den vergangenen zehn Jahren. Die Kinder wurden zwischen zwei und acht Jahre alt. Für Familie Kunzmann ist jedes Weihnachtsfest, jeder Geburtstag mit Aliana ein Geschenk. „Wir müssen es akzeptieren, wie es kommt. Uns bleibt nur übrig, die uns bleibende Zeit mit ihr zu genießen“, sagt die Mutter.