Ein Contergan-Opfer spricht über den Alltag
Aachen (dpa) - Vor 50 Jahren nahm das Unternehmen Grünenthal das Schlafmittel Contergan vom Markt. Weil ihre Mütter es während der Schwangerschaft genommen hatten, kamen in Deutschland 5000 missgebildete Kinder zur Welt.
Ein Opfer berichtet über seinen Alltag.
Im Herbst 1961 kam der Contergan-Skandal ans Tageslicht. Am 27. November 1961 wurde das katastrophal wirkende Schlafmittel vom Markt genommen. Die Aachenerin Carla Hermsdörfer ist eines von 2700 noch lebenden Opfern. Die 49-Jährige hat zu kurze Arme, von ihren acht Fingern sind die meisten steif. Der Alltag der Arzthelferin ist extrem anstrengend geworden, seit ihre 88-jährige Mutter nicht mehr für sie da sein kann. Die Mutter, die so viele kleine Handgriffe für die Tochter übernommen hatte.
Sie leben jetzt allein. Was sind die größten Probleme im Alltag?
Hermsdörfer: „Das sind die vielen kleinen Dinge: Flaschen öffnen, Gläser mit Schraubdeckeln. Das Anziehen ist immer ein Problem. Es gibt keine Hilfsmittel, um Knöpfe oder Reisverschlüsse zu schließen. Und wenn ich mir einen Pulli überziehe, kann ich mir den am Rücken nicht einfach mal herunterziehen. In eine Jeans komme ich rein, kann sie aber nicht schließen. Und wenn sie geschlossen wäre, müsste sie jemand öffnen und herunterziehen, damit ich raus kann.“
Trotz der Probleme haben Sie sich entschieden, nicht ins Behindertenheim zu gehen.
Hermsdörfer: „Meine Wohnung wurde umgebaut und neu ausgestattet: höhere Arbeitsflächen, niedrige Badewanne, spezielle Armaturen, die ohne Kraftaufwand mit einem Finger bedienbar sind, ein Dusch-WC, das es auf Rezept gibt. Da muss man sich aber von der Krankenkasse fragen lassen: Wozu brauchen Sie ein Dusch-WC? Wenn ein Mensch wie ich mit dem Rezept da steht, sollte jedem klar sein, dass jemand mit kurzen Armen niemals im Leben an seinen Po heranreicht. Die Frage darf einfach nicht gestellt werden.“
Wie reagieren fremde Menschen auf ihre Behinderung?
Hermsdörfer: „Viele mit Bewunderung. Es gibt auch einige mit Erstaunen, mit Abneigung, mit Überraschung, Angst, Unkenntnis. Beim näheren Kennenlernen trete ich als Mensch in den Vordergrund. Ich bin zwar contergangeschädigt und habe dadurch enorme Handicaps in meinem Alltagsleben, aber ich bin trotzdem ein Mensch.“
Fühlen Sie sich als Opfer 50 Jahre nach dem Contergan-Skandal vergessen?
Hermsdörfer: „Wir sind seit Jahrzehnten im Tal der Vergessenen. Der finanzielle Ausgleich, die Contergan-Rente, wurde erst 2009 verdoppelt. Die Firma Grünenthal existiert heute noch, so wie wir. Nach über 50 Jahren ist es an der Zeit, dass sich die Inhaber-Familie Wirtz ihrer Verantwortung und Taten stellt. Ihre arrogante und ignorante Haltung empfinde ich als äußerst widerwärtig. Wir stellen uns unserem Leben und unseren Problemen auch.“