Fast normal leben mit Multipler Sklerose

Altenburg (dpa/tmn) - Die ersten Anzeichen nimmt kaum jemand ernst: Die Anfangssymptome der chronischen Nervensystemerkrankung Multiple Sklerose (MS) sind mild. Wenn die Diagnose „unheilbar krank“ kommt, sind die Patienten geschockt.

Dabei lässt sich mit MS fast normal leben.

Auf einmal war Thomas Schlegel auf einem Auge blind. Die Diagnose Sehnerventzündung stand schnell fest, die Behandlung mit Kortison schlug an, und nach acht Wochen konnte der gelernte Maurer aus der Nähe von Altenburg in Thüringen wieder sehen. Die Warnung seines Augenarztes, dass dahinter vielleicht die chronisch-entzündliche Nervensystemerkrankung Multiple Sklerose (MS) stecken könnte, schlug er in den Wind. „So was habe ich nicht, habe ich gedacht“, erzählt der 41-Jährige im Rückblick.

Zwei Jahre später kam ein zweiter Schub: Wie in einem Korsett habe sich sein Brustkorb angefühlt, das Atem sei ihm schwergefallen, sein Körper steif und verkrampft gewesen. „Arbeiten ging nicht mehr. Mir ist alles aus der Hand gefallen.“ Eine ganze Palette Untersuchungen - unter anderem eine Magnetresonanztomographie (MRT) und eine Analyse der Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit - bestätigte schnell den Verdacht: Es ist die bis heute unheilbare Krankheit MS. Für Schlegel brach eine Welt zusammen. „Ich war 27. Wir hatten gerade ein Haus gebaut. Man weiß in so einem Moment gar nicht, wie es weitergehen soll.“

Wenn MS-Kranke die Diagnose zum ersten Mal hören, sind sie in der Regel zwischen 20 und 40 Jahre alt. Weil die Symptome sehr mild sein können - Schleiersehen zählt ebenso dazu wie ein taubes Gefühl in einzelnen Gliedmaßen oder ein unsicherer Gang - und oft auch wieder von selbst abklingen, vergehen im Durchschnitt drei bis vier Jahre von den ersten Anzeichen bis zur Diagnose, erläutert Prof. Ralf Gold von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. „Die spontane Rückbildungsbildungsmöglichkeit führt dazu, dass die Diagnose nicht fortgeführt wird.“

Hinzu kommt, dass die Symptome wie bei Thomas Schlegel beim zweiten Mal völlig anders aussehen können als beim ersten Mal. „MS kann im Prinzip jeden Bestandteil des Hirns befallen, es kann alles ausfallen“, sagt der an der Ruhr-Universität Bochum tätige MS-Forscher und Mediziner Gold. Daher wird die Erkrankung häufig auch als „Krankheit mit den 1000 Gesichtern“ bezeichnet.

MS zählt zu den sogenannten Autoimmunerkrankung. Abwehrzellen, die normalerweise Krankheitserreger bekämpfen, lösen dabei in bestimmten Bereichen des zentralen Nervensystems, etwa im Gehirn oder Rückenmark, Entzündungen aus. Die Folge: Die betroffenen Nerven fallen aus, es kommt unter anderem zu Lähmungserscheinungen, auch die Blasen- oder die Sexualfunktionen können in Mitleidenschaft gezogen sein. Warum die Nervenzellen kaputtgehen, konnte die Wissenschaft bisher nicht vollständig klären.

Insgesamt unterscheiden Mediziner acht Verlaufsformen, am häufigsten sind der schubförmig-remittierende und der chronisch-progrediente Verlauf. Während bei letzterem die Beschwerden nach und nach zunehmen, verschlechtern sie sich bei ersterem schubweise sehr schnell und bilden sich dann wieder weitestgehend zurück. „Es gibt Tage, da geht es mir nicht gut - das lasse ich mir aber nicht anmerken“, erzählt Schlegel. „Wenn ich nicht mehr laufen kann, setze ich mich halt hin.“ Und für den Fall, dass er Schmerzen oder Spastiken hat, habe er immer eine Tablette dabei.

„Heute gilt: Je früher ein Patient behandelt wird, desto weniger Probleme wird ihm die Krankheit bereiten“, sagt Uwe Meier, Vorsitzender des Berufsverbandes Deutscher Neurologen. Denn die Therapiemöglichkeiten seien in den vergangenen Jahren immens gewachsen. „MS kann zu Behinderungen, auch schweren, führen - muss aber nicht“, erläutert der in Grevenbroich niedergelassene Facharzt.

Die meisten seiner MS-Patienten seien in ihrem Alltag und Beruf daher kaum beeinträchtigt. Auch sei ihre Lebenserwartung im Vergleich zu gesunden Menschen nicht niedriger. „Im Idealfall, wenn ein Patient völlig stabil ist und keine oder seltene Schübe hat, sehe ich ihn einmal im Quartal zur Verlaufskontrolle.“

Um Schüben vorzubeugen, spritzen sich die Patienten entweder Interferon oder Glatirameracetat. Als Akuttherapie bekommen sie kurzzeitig Kortisonpräparate. Um die Symptome zu lindern, können sie Meier zufolge unter anderem Physiotherapie etwa gegen Koordinationsstörungen, Medikamente gegen Blasenprobleme und neuropsychologische oder psychotherapeutische Behandlungen erhalten.

Thomas Schlegel musste wegen seiner Erkrankung mit 28 Jahren in Frührente gehen. „Ich lebe damit. Es geht mir den Umständen entsprechend gut“, sagt er heute. Kraft gibt ihm sein Engagement in einer Selbsthilfegruppe der Deutschen Multiplen Sklerose Gesellschaft. Seine Frau dagegen hatte lange Schwierigkeiten, die Krankheit ihres Mannes zu akzeptieren. „Es hat sie mehr beschäftigt als mich“, sagt er. Erst als sie die Lebenslust und Lebenskraft anderer MS-Kranker gesehen habe, sei ihr langsam klar geworden, dass die Krankheit zwar nicht heilbar, aber handhabbar ist.