Früheingeschulte bekommen besonders häufig die Diagnose ADHS

Berlin/München (dpa) - Früh eingeschulte Kinder bekommen häufiger die Diagnose ADHS und entsprechende Medikamente als ihre älteren Klassenkameraden. Das geht aus einer Studie des Versorgungsatlasses und der Ludwig-Maximilians-Universität München über das sogenannte Zappelphilipp-Syndrom hervor.

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Von den Kindern, die erst kurz vor dem Stichtag zur Einschulung sechs Jahre alt wurden, erhielten 5,3 Prozent im Laufe der nächsten Jahre die Diagnose ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung). Bei den rund ein Jahr älteren Kindern in der Studie waren es 4,3 Prozent.

Wenige Wochen oder Tage zwischen Geburtstag und Stichtag können somit gravierende Folgen haben. „Unsere Studie zeigt, dass die traditionelle Einschulungspolitik, bei der die Schulpflicht an gegebene Stichtage geknüpft wird, die Diagnosehäufigkeit psychischer Erkrankungen bei Kindern beeinflussen kann“, schreiben die Forscher.

Die Frage, warum jüngere Kinder eher als impulsiv, hyperaktiv und unaufmerksam gelten, kann die Studie nicht beantworten. Die Forscher vermuten jedoch, dass das Verhalten der jüngeren und oft unreiferen Kinder mit dem ihrer älteren Klassenkameraden verglichen wird. Dadurch werde deutlich, dass das negative Verhalten bei den Jüngeren ausgeprägter sei und dies möglicherweise als ADHS interpretiert. Die Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden Diagnose steige.

„Die Aufmerksamkeitsfähigkeit und Fähigkeit zur Impulskontrolle sind entwicklungsabhängig“, betont auch der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Professor Tobias Banaschewski.

Jüngere Kinder hätten daher relativ gesehen durchschnittlich eine weniger lange Aufmerksamkeitsspanne. Die Hypothese der Studien-Autoren hält er für plausibel. Allerdings dürfe man die Ergebnisse nicht als Beleg dafür interpretieren, dass die jüngeren Kinder komplett unauffällig wären und es sich um reine Fehldiagnosen handelte.

Auch der Kinder- und Jugendpsychiater Martin Holtmann von der LWL-Universitätsklinik Hamm bezweifelt, dass wirklich alle Diagnosen bei den jungen Kindern stimmen. „Wahrscheinlich ist, dass die Kinder aufgrund ihrer relativen Unreife im Klassenverband eher negativ auffallen“, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“.

Die Diagnose ADHS kann den Forschern der neuen Studie zufolge stigmatisierend sein. Zudem können die Medikamente starke Nebenwirkungen haben. Es solle daher untersucht werden, ob eine flexiblere Einschulungspolitik den Zusammenhang zwischen Alter des Kindes und der ADHS-Diagnose abmildern kann.

„Die Konsequenz zu ziehen, auf eine Früheinschulung generell zu verzichten, wäre unbegründet“, sagt Banaschewski. „Sinnvoll wäre aber, bei der Einschulungsuntersuchung verstärkt auf die kognitive und emotionale Reife zu achten und reifungsverzögerte Kinder und solche, deren Aufmerksamkeitsspanne eher grenzwertig ist, nicht zusätzlich frühzeitig einzuschulen“, ergänzt er.

Für die Studie wurden Abrechnungs- und Arzneiverordnungsdaten von sieben Millionen Kindern und Jugendlichen aus den Jahren 2008 bis 2011 ausgewertet. Der Versorgungsatlas ist ein Studienportal des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung.