Kommunikation neu lernen: Was Autismus für Familien bedeutet
Mönchengladbach (dpa/tmn) - Der Sohn war immer anders als seine drei Geschwister. Erziehungskonzepte, die bei den anderen Kindern funktionierten, griffen nicht, seine Reaktionen und sein Verhalten blieben den Eltern ein Rätsel.
„Erst als wir die Diagnose Autismus bekamen, habe ich angefangen, mein eigenes Kind zu verstehen“, erzählt Stephanie Kramp. Ihr Sohn hat das Asperger-Syndrom und damit eine sogenannte Autismus-Spektrum-Störung.
Der etwas sperrige Fachbegriff bringt zum Ausdruck, dass Autismus eine sehr große Bandbreite umfasst. Es gibt einige typische Symptome. Aber sie müssen nicht alle auftreten, und auch die Ausprägung variiert stark.
Autismus kann mit einer geistigen Behinderung einhergehen oder mit besonders hoher Intelligenz. Manche Autisten sprechen nicht, andere haben einen ungewöhnlich großen Wortschatz. „Eine Autismus-Spektrum-Störung setzt sich bei jedem Betroffenen anders zusammen, das macht die Diagnose so schwierig“, sagt Friedrich Nolte, Fachreferent beim Bundesverband Autismus Deutschland.
Oft ist es das Sozialverhalten ihrer Kinder, das Eltern aufmerken werden lässt: Sie spielen nicht mit Gleichaltrigen, sind lieber allein. Auch das Familienleben ist schwierig: Die Geschwister haben viel Streit und die Eltern das Gefühl, dass ihre Erziehung ins Leere läuft. Typisch für alle Autismusformen sind Probleme, mit anderen Menschen zu kommunizieren und Beziehungen aufzubauen.
„Was andere Menschen intuitiv tun, müssen wir uns mühsam erarbeiten“, sagt Christine Preißmann. Die Ärztin aus Darmstadt ist selbst Autistin mit Asperger-Syndrom und hat mehrere Bücher über Autismus geschrieben. Autisten verstehen die Zwischentöne eines Gesprächs, die Bedeutung von Mimik und Gesten nicht. Das sorgt für Frust auf beiden Seiten.
„Der gesamte Alltag in der Familie ist vom Autismus betroffen“, sagt Stephanie Kramp, die in Mönchengladbach eine Selbsthilfegruppe für Eltern leitet. „Die Kinder reagieren oft sehr heftig, weil eine Flut an Eindrücken sie überfordert, finden aber keine Worte für das, was gerade so furchtbar ist.“
Kommunikation funktioniert dann am besten, wenn sie so konkret wie möglich formuliert ist. „„Hör auf“ zu sagen, genügt nicht“, verdeutlicht Kramp. Warum ihr Sohn auf solche Aufforderungen nicht reagiert, hat er ihr selbst einmal erklärt: „Du hast mir ja nicht gesagt, womit ich aufhören soll.“ Wer mit einem Autisten zusammenlebt, muss Kommunikation neu einüben. In Autismus-Therapiezentren gibt es Schulungen, die dabei helfen.
Daneben treibe viele Eltern die Sorge um die Zukunft ihrer Kinder um, erzählt Kramp. Denn heilbar ist Autismus nicht. Verhaltenstherapie kann Autisten zwar helfen, die Regeln des sozialen Miteinanders einzuüben. Doch die Wartezeit auf Therapieplätze ist lang, oft gibt es Streit mit dem Jugend- oder Sozialamt, ob die Therapie in einer bestimmten Praxis oder ein Integrationshelfer für die Schulstunden bezahlt werden. „Selbsthilfegruppen sind deshalb eine wichtige Anlaufstelle, weil sie sehr viele Informationen über praktische Hilfen im Alltag sammeln“, sagt Nolte.
Die Angst vor Ausgrenzung halte viele Eltern davon ab, Lehrer, Freunde oder Kollegen über die Diagnose zu informieren, erlebt Kramp in ihrer Arbeit in der Selbsthilfegruppe. Offenheit könne aber auch vieles leichter machen: „Wenn man gegenüber Lehrern und Mitschülern anspricht, was Autismus bedeutet, dann verstehen sie die Besonderheiten im Verhalten besser.“ Das erspare Autisten viel Ablehnung, die sie sonst im Alltag erfahren.
Literatur:
Christine Preißmann: Gut leben mit einem autistischen Kind. Das Resilienz-Buch für Mütter. Klett-Cotta, 2015, ISBN-13: 978-3608860467, 16,95 Euro.
Christine Preißmann: Asperger. Leben in zwei Welten. Betroffene berichten: Das hilft mir in Beruf, Partnerschaft & Alltag. Trias, 2013, ISBN: 978-3830480136, 19,99 Euro.