Phobien-Bewältigung: Schmusen mit „Ekeltieren“
München (dpa/lby) - Spinnen, Bienen oder Käfer - die kleinsten Tiere der Welt erzeugen häufig die größte Angst. Bei vielen wird der Respekt vor Krabbel- und Kriechtieren zum Psychoterror, der behandelt werden kann.
Anfassen statt Angsthaben: der Tierpark Hellabrunn setzt auf Konfrontation.
Mit Herzklopfen und zittrigen Händen tastet sich Vivian an das Stofftier heran. Eigentlich ist die leblose Spinne ein Kinderspielzeug. Für Vivian aber bedeutet die Annäherung Adrenalin pur. Die 18-Jährige hat eine Phobie. Ein Angstbewältigungsseminar im Münchner Tierpark Hellabrunn soll ihr helfen. Bis zu 17 Prozent der Deutschen leiden an einer dringend behandlungsbedürftigen Phobie. Bei vielen davon richtet sich die Angststörung gegen Krabbel- und Kriechtiere.
Die ersten Tränen fließen schon in der Vorstellungsrunde. Allein das Wort „Spinne„ zu hören, versetze sie schon in höchste Anspannung, sagt eine der Teilnehmerinnen. Kein Wunder, dass das Foto einer heimischen Hausspinne den ein oder anderen Verzweiflungsschrei auslöst. Dabei hat das eintägige Seminar mit Methoden der Verhaltenstherapie nur ein Ziel: Die Teilnehmer in Angst zu versetzen, damit sie erkennen, wie sie diese bezwingen können.
„Angst ist ein Verhaltensmuster, das man genauso erlernen, wie auch wieder verlernen kann“, sagt Seminarleiterin Ursula Riedinger. Die eigentliche Gefahr sei die eigene Vorstellungskraft, weniger das Objekt, vor dem man sich fürchte, erklärt die Tierpflegerin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. „Die Teilnehmer sind oft positiv überrascht nach den Übungen, weil sie die Begegnung mit dem Tier viel schlimmer erwarten, als sie eigentlich ist.“
Vertrauen braucht Übung. Daher gibt es Angstbewältigungsseminare auch in anderen Zoos, etwa im Reptilienpark Berlin oder im Reptilium in Landau in der Pfalz. Die elf Phobiker im Münchner Tierpark Hellabrunn berühren erst hässliche Gummiattrappen und dann echte Schlangen- und Spinnenhaut. Dabei kommt es auf die richtige Atmung an. Immer wieder entspannt sich die Gruppe mit geschlossenen Augen, ruhiger Atmung und Gedanken an einen sommerlichen Garten mit Zitronenbäumen. Die Entspannung soll anhalten, auch beim Anblick der behaarten Achtbeiner.
Lieber sich mit dem Angstobjekt zu beschäftigen, als wegzulaufen, das ist auch die Devise von Nikolaus Melcop, Präsident der Bayerischen Psychotherapeutenkammer (PTK). „Es kann helfen, in den Keller zu gehen und sich die Spinnen einfach anzuschauen oder Bücher über die Tiere zu lesen“, so Melcop. Viele unter Spinnenangst Leidende (Arachnophobiker) hätten ihre Panikattacken von den Eltern übernommen. Betroffen seien meistens Frauen. „Wenn dann noch in der Partnerschaft der Mann den Heilsbringer spielt, weil er immer die Spinne wegräumt, wenn die Frau schreit, dann wird das Problem bestehen bleiben“, sagt der Psychologe.
30 bis 40 Prozent der Menschen haben nach Schätzungen Angst vor Spinnen. Spinnenangst sei aber nicht notwendig krankhaft, und eine schwere Phobie lasse sich erfolgreich behandeln: „Egal ob verhaltenstherapeutisch, tiefenpsychologisch, familientherapeutisch oder psychoanalytisch: für alle Verfahren liegen sehr gute Ergebnisse vor“, betont Melcop. Die fachliche Qualifikation des Psychotherapeuten sei entscheidend. Nur dann zahle auch die Krankenkasse eine Behandlung der Phobien. Der PTK-Präsident warnt vor unseriösen Angeboten: „Manche Leute wollen ihre Angst loswerden, ohne sich groß anzustrengen und haben deshalb eine Affinität zu Hypnoseangeboten.“ Bei einer mangelhaften Ausbildung könne der Anbieter dem Patienten schweren Schaden zufügen.
Im Tierpark Hellabrunn nähert sich der Seminartag seinem Höhepunkt: Der acht Zentimeter großen Vogelspinne Agathe und dem jungen Königspython namens Houdini. Auf dem Weg zu den Tieren teilt sich bei den meisten Nervosität mit Zuversicht. Auch bei Larry, dem einzigen männlichen Teilnehmer, der nach einem Schlangenbiss beinahe sein Bein durch Amputation verloren hätte. „Ich denke, ich bin jetzt bereit, die Schlange anzufassen“, sagt der Traumatisierte.
Wenige Minuten später ist es soweit. Der Python wickelt sich wie ein Armreif um Larrys Unterarm. Die Gruppe applaudiert. Leise, als wolle er das Tier nicht stören, sagt Larry: „Aufregend. Unheimlich. Aber irgendwie ein tolles Gefühl.“ Währenddessen hält Vivian - bislang bekennende Spinnenphobikerin - die Vogelspinne Agathe auf ihrem Handrücken. „Je länger man Agathe anschaut, merkt man, dass sie eigentlich selber Angst hat, und das macht es mir einfacher.“