Reiz der Senkrechten: Klettern zwischen Trendsport und Passion

Mainz (dpa) - Einst Aussteiger-Sport, heute Fitness-Trend: Immer mehr Menschen zieht es an die steilen Wände - ob in Kletterhallen oder in Felslandschaften. Dort stoßen sie an ihre eigenen Grenzen.

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Deutlich treten Sehnen und Muskeln an den Armen hervor. Weiße Fingerspitzen suchen Halt auf rauem, rötlich-braunem Sandstein. Der rechte Arm schnellt nach oben, rutscht ab. Julius Westphal hängt im Seil. Der Fels ist klamm in der Route, einer der schwersten in Rheinland-Pfalz. 2005 hat er „Mekka direkt“ im Schwierigkeitsgrad 11-/11 erstbegangen. Jeden zweiten Tag zieht es ihn an die Wände in der Pfalz. Den „Fitness-Studio-gleichen Hallen“ kann Westphal wenig abgewinnen. „Im Herzen bin ich Felskletterer“, sagt er.

Klettern boomt seit Jahren. Ein Drittel seiner Mitglieder bewege sich in der Senkrechten, schätzt der Deutsche Alpenverein (DAV) und spricht mittlerweile von Breitensport. Insgesamt könne man von etwa 400 000 bis 500 000 Sportkletterern in Deutschland ausgehen. Tendenz steigend, auch in Rheinland-Pfalz. Der Landesverband zähle rund 30 000 Mitglieder, etwa ein Viertel davon klettere, sagt der Vorsitzende Udo Rauch. In Mainz beispielsweise habe der Bau einer Kletterhalle dem Sport einen unheimlichen Aufschwung beschert. Die Jugend wird mit Events gelockt, an Schulen werden Kurse angeboten.

Gerade junge Menschen suchten das Risiko in der steilen Wand und den Ruf des Gefährlichen, sagt Stefan Winter, Ressortleiter Breitensport beim DAV. Bundesweit entstünden immer neue künstliche Kletteranlagen, etwa 430 mit einer Fläche von mehr als 100 Quadratmetern gibt es laut DAV. Fast jeden, der dort das Klettern lerne, ziehe es irgendwann nach draußen.

Die Finger krallen sich in die Wand des Nonnenfelses, Westphal sucht den winzigen Griff über seinem Kopf. Dann schnellt der schmale Körper wieder nach oben. Diesmal kann er die Bewegung abfangen. Das Seil schnappt in die nächste Sicherung. Der gebürtige Karlsruher klettert seit mehr als 14 Jahren. Nicht um Wettkämpfe zu gewinnen, nicht um Weltcup-Rekorde zu erzielen. „Es geht darum, die eigenen Grenzen zu erfahren und sich darüber hinwegzusetzen“, sagt der 27-Jährige. Die Pfalz, sein Revier, gilt als gefährlich. Viele Routen sind spärlich abgesichert, das Gestein brüchig.

Wie bizarre Türme ragen die Buntsandsteinfelsen hinter dem Bärenbrunnerhof aus dem Wald. Hunderte Felsen gibt es insgesamt in der Südwestpfalz, sagt die Vereinigung der Pfälzer Kletterer. Das sportliche Klettern habe dort bereits um die Jahrhundertwende begonnen. Heute mische sich modernes Sport- und klassisches Klettern, das den Fels möglichst naturbelassen erhalten wolle, sagt Sprecher Thomas Schaub. In den traditionellen Routen seien wenige Sicherungsringe ins Gestein gebohrt, um den anspruchsvollen Charakter zu erhalten. Vor allem in den unteren Schwierigkeitsgraden gilt zudem der Gebrauch von Magnesium als verpönt. Anfängern werde es nicht leicht gemacht, sagt Westphal. So würden etwa 40 „Modefelsen“ stark besucht, andere nur selten im Jahr begangen.

Im Morgenbachtal, einem Seitental des Rheins zwischen Bingen und Trechtingshausen, sieht das beispielsweise anders aus. An manchem Sonntagnachmittag wird kaum eine Route in dem grauen Quarzit nicht von Kletterern in bunten Outdoor-Klamotten bevölkert. Die Felsen liegen am Waldhang verstreut, der Blick reicht weit über den Rhein. In dem Naturschutzgebiet gebe es rund zwölf Sektoren mit etwa 120 bis 150 leichten und mittelschweren Routen, sagt der Autor des Kletterführers Rhein-Main-Gebiet, Christoph Deinet. Überwiegend sei der Fels gut abgesichert. Das Morgenbachtal biete so einen Übergang zwischen Indoor- und Outdoorklettern, sagt die Vorsitzende der IG Klettern und Naturschutz in Rhein-Main, Brigitte Hißnauer.

Denn grundsätzlich ist das Klettern am Fels laut DAV-Sprecher Winter schwieriger. Draußen herrsche „Einheitsgrau“ - keine bunten Griffe zeigen den Weg, das Gestein liegt nicht immer gut in der Hand und sorgt manchmal für Verletzungen. „Es gibt mehr objektive Gefahren wie Steinschlag und weite Hakenabstände“, sagt der Experte. Und man klettere meist auf eigene Verantwortung.

Nach DAV-Einschätzung hat sich das Risiko am Fels zwar nicht verändert - parallel zur Anzahl der Kletterer seien in den vergangenen Jahren aber auch die Unfallzahlen gestiegen.

Selbstüberschätzung macht Felsen gefährlich, mit Erfahrung aber ist die Pfalz laut Westphal eines der schönsten Klettergebiete Deutschlands. Für ihn ist Klettern Teil seines Lebens, die Gemeinschaft wichtig - auch wenn der Boom die Szene verändere, Geselligkeit immer öfter von Leistungsdenken abgelöst werde. Früher hätten Kletterer als Aussteiger gegolten, sagt er. Damit sei es heute vorbei.