Schlaganfall trifft auch Kinder - Oft keine schnelle Diagnose
Essen (dpa) - Schlaganfälle treffen auch Kinder und sogar Ungeborene im Mutterleib. Manche Fälle werden nicht diagnostiziert. Dabei ist schnelles Erkennen und Behandeln extrem wichtig, wie Experten zum Tag des Schlaganfalls betonen.
Lyn (7) hat eine „liebe Hand“ und „ein liebes Bein“. Mit einem Jahr erlitt sie drei Schlaganfälle hintereinander, war linksseitig gelähmt. Das heute quirlige Mädchen mit Schiene an Hand und Bein saß noch vor drei Jahren im Rollstuhl, war fast bewegungsunfähig. Schon rund 50 Behandlungen in mehreren Kliniken hat sie hinter sich. Ihre Mutter Pea Hollender schildert: „Ihre Hand hatte sich damals komisch verkrampft. Im Krankenhaus haben sie uns wieder weggeschickt. Da wäre wohl am Handgelenk das Radiusköpfchen verrenkt, wurde uns gesagt.“ Erst zehn Tage - und zwei weitere Schlaganfälle - später erfolgte die Diagnose: „Medialer Hirninfarkt, ihre rechte Gehirnhälfte war schon komplett vernarbt.“
Wertvolle Zeit wurde vertan. „Bis Lyn viereinhalb Jahre alt war, konnte sie nicht laufen, konnte nicht sitzen, die Sprache war ganz weg“, sagt ihre Mutter. „Gegen die Krampfanfälle braucht Lyn lebenslang Medikamente, die Orthesen müssen regelmäßig angepasst werden. Das linke Bein wächst nicht richtig, letztes Jahr musste ihre Achillesferse operativ verlängert werden.“ Das fröhliche Mädchen ist in seiner geistigen Entwicklung etwas zurück, besucht einen Förderschulzweig der Waldorfschule in Essen. „Sie lernt nicht so intensiv, ihre Sprache ist tagesformabhängig. Sie sieht schlechter.“
Jedes Jahr erleiden rund 300 Kinder in Deutschland einen Schlaganfall, etwa ein Drittel von ihnen bereits im Mutterleib oder während der Geburt. Wahrscheinlich sind aber mehr Mädchen und Jungen betroffen. Denn laut Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe wird nicht jeder Fall diagnostiziert. Das Problem: Angesichts von jährlich 280 000 Schlaganfällen bundesweit vor allem bei älteren Menschen ist nur wenigen bewusst, dass ebenfalls Kinder betroffen sein können. Darauf weist auch der Tag des Schlaganfalls am 10. Mai hin.
Welche Auswirkungen ein Schlaganfall haben kann, hängt unter anderem davon ab, ob er vor oder während der Geburt auftritt oder aber im Kindesalter, erklärt Experte Ronald Sträter vom Uniklinikum Münster. Ein Loch im Herzen des Ungeborenen und eine hohe Blutgerinnungsneigung bei Mutter und Kind erhöhen das Risiko. „Das Dilemma ist, dass man den Kindern nach der Geburt den Schlaganfall nicht ansieht, weil sie meist nur unspezifische Symptome zeigen, etwas inaktiv sind, trinkschwach oder schlapper.“
Eltern falle in den ersten Lebensmonaten oft auf, dass die Bewegungsfähigkeit der Kleinen auf einer Körperseite besser ist als auf der anderen. Die Folgen könnten mit Krankengymnastik in der Regel gut abgemildert werden, Medikamente seien dann nicht nötig.
Kommt es jenseits des Säuglingsalters zum Schlaganfall, ist das anders, trifft es ein zuvor neurologisch unbeeinträchtigtes Kind, wie der Mediziner erklärt. „Kinder mit einem Herzfehler haben ein erhöhtes Risiko.“ Und: „Eine Rolle spielen auch Blutgerinnung und Gefäße, die bei Kindern ebenfalls krank sein können. Fatal ist auch, dass sich Schlaganfälle mehrfach ereignen können, die Kleinen aber nicht in der Lage sind zu äußern, was ihnen fehlt.“ Beim kleinsten Verdacht sei eine genaue neurologische Untersuchung nötig. Nach einem Schlaganfall müssen Kinder Blutverdünner einnehmen, um weiteren Hirninfarkten vorzubeugen.
Isabel (13) erlitt einen vorgeburtlichen Schlaganfall. Es vergingen Jahre, bis er diagnostiziert wurde, sagt Anja Gehlken, eine der beiden Leiterinnen der Selbsthilfegruppe Schaki. „Uns ist schon mit einem halben Jahr aufgefallen, dass sie ihre rechte Seite nicht nutzt. Beim Kinderarzt wurden wir aber nur belächelt.“ Immer wieder hakte sie bei verschiedenen Medizinern nach, forderte Therapien ein, bis mit drei Jahren eine Halbseitenlähmung, später eine nicht richtig ausgebildete Hüfte erkannt wurde. „Heute sieht man ihr auf den ersten Blick nichts an. Sie hat eine Spastik im Arm und manchmal verhärten sich plötzlich ihre Muskeln, dann kann sie nicht mehr laufen“, erzählt Gehlken. Isabel geht aufs Gymnasium, trotz motorischer Handicaps. „Es gibt sehr viel schwerere Verläufe.“
Eltern wünschen sich mehr Unterstützung. „Wir suchen uns alle Infos selbst zusammen“, schildert Pea Hollender. „Vor Schulbeginn bekamen wir ein Schreiben mit Adressen von drei Sonderschulen. Wieder reines Schubladendenken, aber keine nützlichen Tipps.“ Bei Ergo- oder Physiotherapie zahle die Familie deutlich zu, weil die Krankenkasse nur ein unzureichendes Minimum übernehme. „Und wir brauchen Aufklärung, damit Berührungsängste und Vorurteile abgebaut werden.“
Infos gibt Schlaganfall-Kinderlotse Marco Vollers vom Neurologischen Reha-Zentrum Friedehorst in Bremen - er gehört zu einem Experten-Netzwerk, das die Schlaganfall-Hilfe aufgebaut hat. Um mehr Wissen und Optimalbehandlung geht es Jugendmediziner Sträter, der ein Register mit Daten von 1000 kleinen Patienten angelegt hat. Ein günstiger Faktor: „Das kindliche Gehirn hat eine hohe Plastizität. Intakte Regionen im Gehirn können daher Funktionen geschädigter Areale zum Teil mit übernehmen.“ Das erklärt wohl auch die Fortschritte der kleinen Lyn. Ihre Mutter sagt: „Sie übertrifft momentan alle Prognosen. Mein größter Wunsch ist, dass sie ein selbstständiges Leben führen kann.“