Seltene Erkrankungen und der lange Weg zur Diagnose
Tübingen (dpa/tmn) - Sie sind sehr viele und doch oft allein: Rund vier Millionen Menschen in Deutschland haben eine seltene Erkrankung - ein Krankheitsbild, von dem unter 10 000 Menschen maximal 5 betroffen sind, so die Definition in der Europäischen Union.
Viele der Krankheiten begleiten die Betroffenen ein Leben lang. Bei vier von fünf liegt die Ursache in den Genen. Heilbar sind die wenigsten. „Die Bandbreite bei den seltenen Erkrankungen ist enorm groß“, sagt Professor Olaf Rieß, Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Sprecher des Zentrums für Seltene Erkrankungen an der Universität Tübingen.
Beim Williams-Beuren-Syndrom zum Beispiel kann der Verlust von genetischem Material unter anderem zu Herzfehlern, unterschiedlich ausgeprägten kognitiven Beeinträchtigungen, Wachstumsverzögerungen und einer besonderen Gesichtsform führen.
Dass sämtliche Beschwerden auf eine Erkrankung zurückgehen, wird oft erst spät erkannt: Fachärzte konzentrieren sich bei der Suche nach der Ursache naturgemäß zunächst auf ihre Disziplin. Doch die seltenen Erkrankungen sprengen diesen Rahmen. „Viele Patienten werden zwar vom Hausarzt zum Facharzt überwiesen, aber dort kommen sie dann nicht weiter“, berichtet Rieß. Die Folge: Sie versuchen es beim nächsten Facharzt, oft beginnt eine jahrelange Odyssee. Die ersten Anzeichen seltener Erkrankungen können zudem sehr unspezifisch sein.
Dass ihr Kind unruhiger war als andere Babys, mit neuen Eindrücken und fremder Umgebung schlecht zurechtkam, fiel Jörg Richstein und seiner Frau schon früh auf. Er ist Vorsitzender der Interessengemeinschaft Fragiles-X. Das ist eine seltene Erkrankung, die durch einen Defekt auf dem X-Chromosom hervorgerufen wird und die sein Sohn hat. Die Symptome zu einem Krankheitsbild zusammenzufügen, ist nämlich auch beim Fragilen-X Syndrom schwierig: „Bei den betroffenen Kindern fehlen wesentliche Entwicklungsschritte wie Sitzen, Krabbeln, Laufen, auch die Sprachentwicklung setzt spät oder gar nicht ein. Sie haben Probleme mit der Feinmotorik, zeigen aber auch Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivität. Die Lern- und geistige Behinderung wird erst spät offensichtlich.“
Eine Diagnose bedeutet in vielen Fällen Gewissheit, dass die Erkrankung nicht heilbar ist - und sei dennoch enorm wichtig, sagt Richstein: „Wenn die Beschwerden einen Namen haben, kann man gezielt nach Behandlungsmöglichkeiten suchen.“ Bei Krankheiten, die vererbt werden, spielt noch ein zweiter Aspekt eine Rolle: „Eltern können sich dann vor einer weiteren Schwangerschaft gezielt beraten lassen.“ Moderne Verfahren erleichtern die Identifizierung von Gendefekten, werden aber in vielen Fällen nicht von den Krankenkassen bezahlt.
Die Zentren für Seltene Erkrankungen sind Ansprechpartner für die Diagnose als auch die Behandlung. Den Kontakt muss der behandelnde Arzt herstellen. Betroffene und Spezialisten zueinander zu bringen, ist auch das Ziel des Projekts „se-atlas“: In einer Datenbank werden Informationen über Behandlungsmöglichkeiten gesammelt. Die Webseite zeigt an, welche seltenen Erkrankungen wo behandelt werden. „Für Deutschland haben wir mittlerweile eine gute Datenbasis. Sie soll nun noch um Informationen über Spezialisten im europäischen Ausland ergänzt werden“, sagt Holger Storf, Leiter des Projekts, das am Universitätsklinikum in Frankfurt am Main angesiedelt ist.
Neben den Kontaktdaten von Kliniken und Ärzten nennt der Versorgungsatlas auch Selbsthilfe- und Patientenorganisationen: „Gerade wenn es, wie bei seltenen Erkrankungen, so wenige Betroffene gibt, ist die Selbsthilfe enorm wichtig“, ist die Erfahrung, die Richstein gemacht hat. Um Ressourcen und Know-how der vielen Selbsthilfegruppen zu bündeln, wurde 2004 die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen gegründet. Sie vernetzt mehr als 120 Organisationen und bietet mit einer Betroffenen- und Angehörigenberatung die einzige zentrale Anlaufstelle in Deutschland.