So helfen Psychiatrie-Erfahrene anderen
Hamburg (dpa/tmn) - Erfahrung schafft Wissen. Ein Wissen, das nicht in Büchern steht. Auf dieser Tatsache basiert ein Konzept, das Menschen, die selbst in psychiatrischer Behandlung waren, in die Therapie psychisch Kranker einbindet.
Sie sind sogenannte Ex-In-Ausgebildete.
Wer selbst eine psychische Krise erlebt und überwunden hat, erinnert sich sehr genau, wie er sich gefühlt und was ihm geholfen hat. Als „Experte aus Erfahrung“ kann er sein Wissen weitergeben - an Patienten ebenso wie an Ärzte, Therapeuten und Pflegekräfte. Seit einigen Jahren gibt es für diese Form der Genesungsbegleitung das Projekt Ex-In. Die Abkürzung steht für „Experienced Involvement“, zu Deutsch „Einbeziehen von Betroffenen“.
„ In Skandinavien und in den angelsächsischen Ländern wird schon sehr viel länger nach diesem Prinzip gearbeitet“, erzählt Gyöngyvér Sielaff. Die Psychologin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf betreut Ex-In in Deutschland seit dem Start vor zehn Jahren.
Von Anfang an war es das Ziel, die Einbeziehung der Erfahrenen auf eine professionelle Basis zu stellen. Deshalb entstand ein einheitlicher Lehrplan, nach dem heute an mehr als 20 Standorten deutschlandweit Genesungsbegleiter ausgebildet werden. Rund 400 sind es bislang, sagt Jörg Utschakowski, Ex-In-Koordinator.
Sabine Joel aus Siegburg bei Bonn absolvierte den ersten Ex-In-Kurs in Nordrhein-Westfalen. Die gelernte Reisekauffrau war nach einer Depressionserkrankung auf der Suche nach einem neuen beruflichen Weg. Seit vier Jahren arbeitet die 53-Jährige nun als Genesungsbegleiterin in einem Wohnheim für psychisch erkrankte Menschen in Siegburg. Sie ist Ansprechpartnerin für die Bewohner, unterstützt sie bei der Bewältigung des Alltags und leitet eine Selbsthilfegruppe. „Die Tatsache, dass ich selbst eine psychische Krise erlebt habe, erleichtert es den Bewohnern, mit mir über ihre Krankheit zu sprechen“, beobachtet sie. Die Schwelle sei niedriger, „weil ich viele ihrer Probleme selbst erlebt habe“.
In der ersten Phase der Ausbildung richtet sich der Blick auf die eigene Erkrankung: Was macht mich gesund, was hält mich gesund? Wie kann ich wieder erstarken? Wie kann ich Verantwortung für mich selbst übernehmen? Und wie sind andere mit ihrer Erkrankung umgegangen? Die eigene psychische Krise müsse deshalb so weit überwunden sein, „dass auch die Perspektiven anderer Menschen wieder wahrgenommen werden“, sagt Psychologin Sielaff. In einem Aufbaukurs geht es anschließend darum, aus dem Wissen über die eigene Erkrankung und über die Krisen anderer wirksame Methoden zu entwickeln, um Menschen in einer psychischen Krise zu begleiten und zu unterstützen.
In zwei Praktika erproben die Teilnehmer ihr Erfahrungswissen. Ex-In-Mitarbeiter sind in Kliniken, Tageskliniken oder in der ambulanten psychiatrischen Pflege tätig, arbeiten als Dozenten oder bilden selbst aus. Die Nachfrage sei groß, sagt Jörg Utschakowski: „Wer nach der Ausbildung eine Anstellung sucht, wird in der Regel auch eine finden.“ Für viele Behandlungsteams ist die Sichtweise der Genesungsbegleiter neu und ungewohnt. „Natürlich kann es da auch Berührungsängste geben“, sagt Gyöngyvér Sielaff.
In der täglichen Arbeit zeige sich schnell, wie wertvoll das Wissen der Psychiatrie-Erfahrenen sein könne, ist die Erfahrung von Gabriele Schleuning. Sie ist Chefärztin in der psychiatrischen Klinik München-Ost, in der mehrere Ex-In-Genesungsbegleiter arbeiten. „Wenn es in der Teambesprechung beispielsweise um bestimmte Medikamente oder um eine Fixierung geht, dann weiß der Ex-In-ler, wie sich eine solche Behandlung tatsächlich anfühlt.“ Sie sagt aber auch: „In der Akutpsychiatrie gibt es Situationen, die für die Mitarbeiter sehr belastend sein können.“ Eine regelmäßige Supervision sei wichtig.
Der für Genesungsbegleiterin Sabine Joel wichtigste Aspekt ihrer Arbeit ist dieser: „Es war eine enorme Erleichterung, dass ich meine Krankheit nicht mehr verstecken musste.“