Wenn Hunger zum Feind wird - der Kampf gegen Essstörungen

Tübingen (dpa) - Zwischen spargeldünnen Models und Essen im Überfluss: Tausende Deutsche haben eine Essstörung. Ärzte in Tübingen nehmen den Kampf gegen die Erkrankung auf - und treffen auf neue Herausforderungen.

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„Es hat angefangen, wie das bei vielen ist: dass man sich mit anderen, mit Bildern, vergleicht“. Sophie, die ihren echten Namen nicht öffentlich lesen will, ist seit mehreren Jahren magersüchtig. Das Empfinden, etwas im Griff zu haben, die Kontrolle über ihren Körper zu bewahren, gebe ihr ein gutes Gefühl. Wann genau es angefangen hat, weiß sie nicht. Als Jugendliche wurden Essen und Gewicht zum Thema - fast zehn Jahre später kämpft sie immer noch mit ihrer Essstörung.

Damit ist die 24-Jährige nicht allein. Jedes fünfte Kind zwischen 11 und 17 Jahren in Deutschland zeigt laut einer Studie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) Symptome einer Essstörung. Aber nicht nur Jugendliche sind betroffen: „Diese Erkrankungen fangen häufig in der Pubertät an, reichen dann aber weit ins Erwachsenenalter hinein“, erklärt Stephan Zipfel, Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Tübingen.

Um diese Patienten ein Leben lang zu begleiten, wurde dort nun ein neues Kompetenzzentrum (Komet) für Essstörungen gegründet. Bislang gebe es weltweit kein vergleichbares Zentrum, das die Behandlung nicht auf ein bestimmtes Alter beschränke, sondern den ganzen Verlauf der Krankheit berücksichtige, sagt Zipfel. Das Komet soll Krankenversorgung, Forschung und Lehre bündeln.

Derartige Erkrankungen gibt es zwar schon lange, neue Entwicklungen bereiten den Experten jedoch Sorgen. Neben Magersucht und Bulimie nimmt inzwischen auch die sogenannte „Binge-Eating-Störung“ zu, bei der Betroffene zu viel essen, sich im Gegensatz zur Bulimie aber danach nicht erbrechen. „Dieser Anteil an übergewichtigen Menschen, die auch eine Essstörung haben oder wo die Essstörung zentrales Element ihres Übergewichts ist, hat in den letzten 15 bis 20 Jahren dramatisch zugenommen“, sagt Zipfel.

Die Gefahr dieser regelrechten Fressattacken ist rund drei Mal so hoch wie die der Magersucht: Zwei bis drei Prozent der Mädchen zwischen 15 bis 25 Jahren leiden der Studie des BMBF zufolge unter dieser Krankheit. Bei der Magersucht sind es 0,5 bis 1 Prozent. Jeder dritte Patient, der unter der Binge-Eating-Störung leidet, ist männlich - ein deutlich höherer Anteil als bei der Magersucht.

Ärzte haben dennoch große Fortschritte erzielt. Eine Studie von den Unikliniken Tübingen und Heidelberg zeige, dass 40 bis 50 Prozent der Magersucht-Patienten geheilt werden können, sagt Zipfel. „Das ist nicht bei jeder psychischen Erkrankung der Fall“, erklärt er. Bei der Bulimie und der Binge-Eating-Störung sei die Erfolgsrate noch höher.

Sophie konnte bisher niemand endgültig helfen. Trotz zwei Jahren Therapie und Klinikaufenthalten hat die Studentin ihre Krankheit nicht überwunden. Feste Mahlzeit gibt es bei ihr nicht, wie sie erzählt. „Rosinen, Karotten, Gurken und Kaugummi“ sind für sie Ersatz für echte Mahlzeiten. Gerne würde sie sich mit Freunden auf einen Kaffee treffen, sagt sie. Der sei ihr allerdings zu kalorienreich.

Die effektivste Therapie sei eine, bei der die Verarbeitung von Emotionen im Mittelpunkt stehe, erklärt Zipfel mit Verweis auf die Studie. Betroffene müssten dabei gezielt auf den Alltag nach dem Ende der Therapie vorbereitet werden.

Die Behandlung ist allerdings nur ein Puzzlestück im Kampf gegen Essstörungen. „Wir wissen, je früher wir intervenieren können, desto besser sind die Chancen für die Betroffenen“, erklärt Zipfel. Ein eigens entwickeltes Videospiel etwa soll Kindern und Jugendlichen zeigen, wie Stress bewältigt werden kann - und zwar ohne Essen oder den Verzicht darauf. Videokonferenzen mit Patienten, die das Zentrum verlassen haben, sollen zudem Rückfälle vermeiden.

Sophie hat die Hoffnung zumindest noch nicht verloren. Was sie sich für die Zukunft wünscht? Dass Essen eines Tages kein Thema mehr für sie sein wird.