Fast das Ende der Welt - Im Dreiländereck des hohen Nordens
Kirkenes (dpa/tmn) - Es ist wie eine Reise ans Ende der Welt: Die Region Finnmark liegt im äußersten Nordosten Norwegens. Sie ist geprägt von den Kulturen der Samen, Finnen und Russen.
Schon auf dem Rollfeld des Flughafens von Kirkenes ahnt man: Das hier ist vielleicht nicht das Ende der Welt. Aber weit weg kann es nicht sein. Die Luft ist frisch und salzig, der Himmel grau, der Flugplatz winzig. Eine einzige Straße schlängelt sich über grün bewachsene Hügel, vorbei an Seen, Flüssen und Fjorden vom Flughafen zum Städtchen Kirkenes. Ansonsten: Stille. Es gibt hier mehr Seen als Einwohner, sagt man, und wer im Sommer zum Angeln an einen See kommt, an dem schon einer sitzt — der geht eben zum nächsten See.
Finnmark ist die größte und am wenigsten besiedelte Provinz Norwegens, sie liegt so weit nördlich wie Alaska, Grönland und Sibirien. In Kirkenes sind die Schilder norwegisch und russisch beschriftet, die russische Grenze ist keine 15 Kilometer weit weg.
Über eine menschenleere Landstraße gelangt man von hier in das Pasviktal mit dem bei Wanderern beliebten Øvre-Pasvik-Nationalpark. Dort futtern sich in den Sommer- und Herbstmonaten Braunbären den Winterspeck an, indem sie bis zu 90 Kilogramm Blaubeeren pro Tag verputzen. Im Nationalpark stehen 500 Jahre alte Bäume, es ist der westlichste Ausläufer des sibirischen Taigawaldes. Nirgends sonst in Europa lässt sich diese besondere Flora und Fauna mit ihren schlanken sibirischen Fichten und mit etwas Glück mit Bären, Elchen und Luchsen beobachten. Durch den Nationalpark kann man bis zur finnischen Grenze oder bis zum Dreiländereck wandern — nur sollte man dabei genug Lärm machen, um Bären fernzuhalten. Und reichlich Moskitospray einpacken.
Wir entschließen uns statt einer Wanderung zu einer abendlichen Bootstour über den Fluss Paatsjoki (norwegisch: Pasvikelva), der die Grenze zwischen Russland und Norwegen bildet. Im Dämmerlicht gleitet das Boot über das silbrig schimmernde Wasser. Dunkler als jetzt gegen 21.00 Uhr wird es heute Nacht nicht mehr. Die Mitternachtssonne ist zwar Anfang August schon vorüber, aber die Sonne taucht trotzdem nur kurz gegen Mitternacht hinter dem Horizont ab.
Gelbe Bojen in der Mitte des Flusses zeigen den Verlauf der Grenze, die auch nach Ende des Kalten Krieges ihre Bedeutung nicht verloren hat. Wir halten kurz auf einer Flussinsel, wo der willkürliche Grenzverlauf besonders deutlich wird. Auf einem Hügel stehen zwei Pfosten, einer auf norwegischer, einer auf russischer Seite. Dazwischen: zwei Meter Niemandsland. Wer auch nur den Arm zu weit auf die russische Seite streckt, bekommt Ärger. Die Grenzsoldaten in ihren Wachtürmen entlang des Flusses haben alles genau im Blick. 5000 Norwegische Kronen (rund 640 Euro) kostet ein unbefugter Grenzübertritt.
Am nächsten Tag gehen wir an Bord der MS „Polarlys“ der berühmten Hurtigruten-Linie. Kirkenes ist der letzte Halt und Wendepunkt der traditionsreichen Postschiffe. Wir überqueren den Varangerfjord und fahren hinaus auf die Barentssee, die dank des warmen Golfstroms selbst im bitterkalten Winter eisfrei bleibt.
Der Himmel hat sich inzwischen zugezogen, der Wind peitscht Regen über Deck. Nur ab und zu bricht die Sonne dramatisch zwischen den Wolken hervor. Als wir in Vardø an der Küste der Varanger-Halbinsel in den Hafen einlaufen, leuchtet ein Regenbogen vor dem tiefschwarzen Himmel. Die Sonne strahlt die dahingewürfelten roten, blauen und gelben Holzhütten Vardøs an und taucht sie in gleißendes Licht.
Vardø ist die einzige arktische Stadt Norwegens, selbst im Juli übersteigt die Durchschnittstemperatur nie zehn Grad Celsius. Zugleich ist Vardø die östlichste Stadt Norwegens, sie liegt weiter östlich als St. Petersburg. Hier wachsen keine Bäume mehr, entlang der Küste wechseln sich sanfte Wiesen, Sanddünen und Gestrüpp mit schroffen Felsen und Geröllhalden ab.
In Vardø wohnt Kate Utsi. Sie arbeitet für die Tourismuszentrale der Varanger-Halbinsel, aber genau genommen führt sie ein Doppelleben: Morgens sitzt sie im Büro und abends, am Wochenende und in den Ferien hütet sie ihre Rentierherde. Utsi, 34, dunkelblondes Haar und Sommersprossen, gehört zum Volk der Samen — und ist sehr stolz darauf. Seit Generationen hält ihre Familie Rentiere, und seit Kurzem führt sie diese Tradition fort. Ihre Mutter fährt im Winter Hundeschlittenrennen — eine nordnorwegische Vorzeigefamilie.
Die Samen, die früher meist abwertend Lappen genannt wurden, siedelten vermutlich schon vor bis zu 10 000 Jahren in den heutigen Gebieten Finnlands, Schwedens, Norwegens und Russlands. Sie lebten als Sammler, Jäger und Fischer und begannen ab dem 17. Jahrhundert mit der halbnomadischen Rentierhaltung. Bis heute dürfen in Norwegen nur Samen Rentiere halten.
Für Vogelliebhaber ist die Varanger-Halbinsel besonders sehenswert. Zu den Zugzeiten im Frühjahr und Herbst kommen hier selbst Vogelarten vor, die man sonst nur in der Arktis oder im Zoo sieht, zum Beispiel Polarenten, Seeadler oder Papageientaucher.
Kate Utsi bietet auch Vogelbeobachtungs-Touren an. Sie liebt es, Fremden die Schönheit ihrer Heimat zu zeigen — auch wenn sie fast am Ende der Welt liegt. Und sie weiß, sie will nie mehr hier weg: „Ich habe studiert und war für längere Zeit in Italien und Indien. Aber ich hatte furchtbares Heimweh, ich habe alles vermisst: die Luft, die Farben, die Weite, die Natur. Erst seither weiß ich: Ich gehöre hier hin, ich will hier leben.“