Reise-Berichte Festival „Normandie Impressioniste“: Ein Himmel für die Kunst
Im Jahr 1872 malte Claude Monet in Le Havre sein Bild „Impression, soleil levant“ und gab dem Impressionismus damit seinen Namen. Die Normandie feiert dies mit einem Festival.
Le Havre. Regen peitscht auf die düstere Mole an der Hafeneinfahrt von Le Havre. Dahinter eine Betonwüste mit 50er-Jahre-Kästen nach Plänen von Auguste Perret, die in ihrer durchdachten, kostengünstigen Nachkriegs-Einheitlichkeit seit 2011 als Beispiel für geplanten Städtebau zum Weltkulturerbe zählen. Die spezielle Impressionismus-App des örtlichen Tourismus-Büros führt metergenau an diese Stelle am Boulevard Clemenceau. Es gibt wahrlich malerischere Ausblicke in der Normandie. Aber eben hier kam eine Revolution zu ihrem Namen, die der Region heute jedes Sommerhalbjahr ganze Heerscharen von Touristen beschert.
In wenigen Morgenstunden warf an dieser Stelle 1872 der 32-jährige Oscar-Claude Monet einen dunstigen Sonnenaufgang auf die Leinwand und nannte ihn „Impression, soleil levant“. Als er das Bild zwei Jahre später in Paris zu Gesicht bekam, ätzte der Kunstkritiker Louis Leroy, eine Tapete im Urzustand sei ausgearbeiteter und subsumierte Monet und seine Mitstreiter mit ihren schnell hingeworfenen Lichtspielen in herablassendem Ton als Impressionisten. Die Zeiten haben sich bekanntlich geändert.
1961 baute der französische Staat kaum 50 Meter weiter das erste große Museum der Nachkriegszeit ausschließlich zu Ehren jener kaum 20 Künstler, die erstmals unter freiem Himmel Licht und Schatten zu Papier gebracht hatten. Und seit 2010 ist das Festival „Normandie Impressioniste“ die größte Kulturveranstaltung im Norden Frankreichs. Bei der Ausgabe 2013 sollen 1,8 Millionen Besucher gekommen sein. Noch bis zum 26. September locken die Verantwortlichen in diesem Jahr mit 450 Veranstaltungen. Neben Ausstellungen und Konzerten gibt es Kunst-Picknicks am Ufer der Seine, Kochkurse mit Rezepten aus der Küche von Claude Monets Köchin, Atelierbesuche oder Malkurse.
Wer mag, der kann im Musée des Beaux-Arts in Caen oder in den vier Gästehäusern des Vereins „B&B Charme et impressionnisme“ vor passender Kulisse und in ausgeliehener Garderobe sogar Teil eines impressionistischen Bildes werden. „In mancher Hinsicht war es der Tourismus selbst, der dem Impressionismus den Boden bereitete“, sagt die Kunstpädagogin Claudia Hautot in Le Havre. „Als in den 1850er-Jahren Ausflüge in die Seebäder rund um die Stadt wie Saint-Adresse, Honfleur, Deauville oder Cabourg mit der neuen Eisenbahn von Paris aus populär wurden, folgten bald auch Künstler der feinen Gesellschaft in die Sommerfrische und entdeckten dabei neue Welten.“ Wirtschaftlich habe sich das für viele allerdings nicht ausgezahlt, fügt Hautot an. Da für die Impressionisten Menschen meist nur Beiwerk und kaum als Individuum zu erkennen waren, kauften die Porträtierten fast nie.
Hoch wölbt sich der Himmel noch heute über den markanten Kreidefelsen von Étretat an der Alabasterküste. Weiße Jollen liegen auf dem Strand des Seebades in einer Bucht unterhalb der Promenade — ganz so wie auf einem Bild Claude Monets, dessen Reprint an Ort und Stelle aufgestellt wurde.
Möwen kreisen im ständigen Wind und Touristenscharen krabbeln auf der Suche nach dem besten Fotomotiv am Rand der Klippen entlang. Dabei wechselt die Szene im Spiel der ziehenden Wolken und des beständigen leichten Dunstes in der Luft von Minute zu Minute ihre Stimmung.
Den jungen Wilden, die von ihrer Ausbildung akademische Atelier-Malerei gewohnt waren, müssen Panoramen wie dieses um 1870 wie eine Offenbarung erschienen sein. Boudin etwa, den sie „Meister der Himmel“ nannten, soll bis zu seinem Tod mehr als 7000 Bilder mit schnellem Pinselstrich gemalt haben. Die Motive waren dabei nebensächlich.
So störte es beispielsweise Claude Monet, der in der Départementshauptstadt Rouen zwischen 1892 und 1894 die prächtige Fassade der gotischen Kathedrale in 33 Stimmungen malte, gar nicht, dass er durch das Fenster gegenüber nicht den ganzen Bau sehen konnte. Schon mehr mag ihn gewurmt haben, dass er hinter einem engen Paravent arbeiten musste, weil nebenan eine Schneiderin die Damen der Stadt zur Anprobe bat. Jedenfalls war der Meister derart abgelenkt, dass er aus Angst vor dem Scheitern seiner Aufgabe in dieser Zeit an schweren Alpträumen gelitten hat.
Im selben Raum direkt über der örtlichen Tourist-Info können heute Besuchergruppen Malkurse buchen. Selbst ein Regentag im wechselhaften Küstenklima bietet damit ein kurzweiliges Erlebnis. Schließlich sind es nicht die Sonnenbilder, die Monets Bilderserie aus Rouen weltweit berühmt machten, sondern die Ansichten im Nebel. Überhaupt Monet: Den Gipfel impressionistischer Perfektionierungswut setzte der Meister in seinem Garten in Giverny am Ufer der Seine kurz vor der Südgrenze der Normandie in Szene. Aus einem alten Apfelschuppen wurde ein fehlerfreier Paradiesgarten als Motivspielwiese, für die Monet eigens einen Fluss umleiten ließ. Heute ist das Anwesen von einer Stiftung längst wieder originalgetreu bepflanzt und damit ein Wallfahrtsort für alle Seerosen-Anbeter der Welt.
Unbekümmert und erfrischend unprätentiös bahnt sich auch die Künstlerin Patricia Rinsky d’Argence ihren Weg durch die Besucherscharen zum berühmten Seerosenteich. Monet habe die Pflanzen nicht nur so angeordnet, dass sie jeweils optimal beschienen wurden, erzählt sie. Acht Gärtner seien den Sommer über damit beschäftigt gewesen, die Blätter der Rosen abzuwischen und jedes tote Blatt aus dem See zu fischen, damit kein Detail die Produktion des Künstlers störte. „Er war kein angenehmer Arbeitgeber“, vermutet Rinsky. Monet produzierte oft mehrere Bilder gleichzeitig, um die Familie mit zwei Söhnen aus erster Ehe und den sechs Kindern seiner zweiten Frau standesgemäß zu unterhalten.
Dabei wurde der einst als Schmähung gemeinte und später mit Stolz als Kampfbegriff verwendete Titel Impressionist schon bald zum Verkaufsschlager. Fotografien machten Monets Bilder in den USA populär — und ihren Schöpfer zum Popstar der Kunstszene. So hätte es ihn sicher nicht gestört, dass seine Seerosen heute im großen Shop des Anwesens und im benachbarten Kunstmuseum auf Servietten, Fingerhüten und Regenschirmen prangen.