Gotisches Auge: Mallorcas spirituelles Erbe
Palma de Mallorca (dpa/tmn) - Ein mittelalterlicher Vorläufer des Computers, farbenprächtiges Kathedralen-Kino und eine Totenstadt aus grauer Vorzeit - all das verbindet man nicht unbedingt mit Mallorca.
Manche kulturhistorische Attraktion blüht im Verborgenen.
Der spektakulärste Anblick auf Mallorca ist kein roter Sonnenuntergang und keine azurblaue Bucht. Es ist das Farbenspiel der Rosette in der Kathedrale von Palma. Vormittags sieht es aus, als hätte jemand Bodenplatten, Kirchenbänke und Säulen in allen Regenbogenfarben bepinselt. Aber es ist das durch mehr als 1000 farbige Glasstücke fallende Licht, das den Kirchenraum einfärbt. Ein Dom als Lichtspielhaus. Wer es einmal erlebt hat, der weiß: Es lohnt sich, Mallorcas spirituelles Erbe zu entdecken.
Es ist ein Erlebnis, das man so in Mallorca nicht unbedingt erwartet. Doch die Balearen-Insel hat eben für jeden etwas zu bieten. Das direkte Gegenstück zum Ballermann ist vielleicht der Kreuzgang des Franziskanerklosters von Palma, einer der größten Europas. Dort herrscht völlige Stille, völliger Frieden - und das schon seit 700 Jahren. Ein Erholungsort für Auge und Ohr gleichermaßen.
Fast schon himmlische Ruhe erwartet den Reisenden auf Mallorcas Heiligem Berg, dem Wallfahrtsberg Randa. Es ist die höchste Erhebung im Zentrum der Insel und berühmt geworden durch die Einsiedelei des Universalgelehrten Ramón Llull (1232-1316). Er hatte 1274 hier oben in der Einsamkeit ein Erweckungserlebnis. Anschließend entwickelte er eine Wahrheitsmaschine, die dazu dienen sollte, durch logisches Kombinieren die Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden.
Ramón Llull schrieb eine Reihe von Büchern auf Arabisch und stand dem Islam wie auch dem Judentum ungewöhnlich aufgeschlossen gegenüber. Damit löste er großes Misstrauen aus, denn Spanien war gerade erst für das Christentum zurückerobert worden.
Wie bedroht sich die Christen immer noch fühlten, verdeutlicht ein Besuch in der am besten erhaltenen mittelalterlichen Festung der Insel, dem Castell de Capdepera im Nordosten. Die ringsum von einer Mauer umgebene Dreiecksanlage sieht von weitem so wackelig aus wie ein auf Sofakissen aufgebautes Spielzeugfort.
Von den Wachtürmen aus schaut man zur einen Seite über die Inselebene, auf der anderen blickt man aufs Meer. Dort konnten früher jederzeit die Segel einer Piratenflotte auftauchen. Das war der Anblick, der die Mallorquiner in ihren Alpträumen quälte. Nichts fürchteten sie so sehr wie diese ständig drohende Gefahr von außen.
Die Festung zeigt besser als mancher dicke Geschichtsband, wie zentral für die damaligen Menschen ihre Religion war. Denn das Herzstück der Anlage ist eine Kapelle, und der Stolz dieser Kapelle eine Marienstatue, der die Bewohner besondere Kräfte zuschrieben: Sie konnte von der Burg aus Nebel aussenden, die den anrückenden Piraten eine Landung an der Küste unmöglich machten.
„Nuestra Señora de la Esperanza“, Unsere Frau der Guten Hoffnung heißt die Kapelle denn auch. Sie bietet auch in der größten Hitze immer ein kühles Plätzchen. Wenn man dann nach einer erholsamen Viertelstunde im Halbdunkel wieder das schwere Kirchenportal öffnet, fällt das weiße Licht der Mittagssonne so gleißend herein, dass man an eine Nahtoderfahrung glauben könnte.
Spuren der maurischen Kultur sind auf Mallorca leider kaum noch zu finden. Die Reconquista hat hier ganze Arbeit geleistet. Eine Ausnahme sind die Überreste der arabischen Bäder in der Altstadt von Palma. Aus einem verwunschenen Garten betritt man das von zwölf zierlichen Säulen getragene Dampfbad. Geheizt wurde das Wasser von einer darunter liegenden Küche: Die aufsteigende heiße Luft von dort wärmte den Steinfußboden des Bades. Über die so aufgeheizten Steinplatten wiederum wurde kaltes Wasser geleitet, so dass Dampf hochquoll. Ja, die Mauren verstanden etwas von Energieeffizienz.
Es gibt aber Relikte einer noch viel älteren Kultur. Im Norden, in der rauen Bucht von Alcúdia, liegt der größte prähistorische Friedhof des Mittelmeerraums: die Nekropole von Son Real, eine Ansammlung von Felsengräbern. Die mystische Stätte wurde vor etwa 2500 Jahren von den Talayots errichtet, einer Art Urmallorquinern. Sie hinterließen an mehreren Stellen der Insel massige Türme und Verteidigungsbauten, alle merkwürdig überdimensioniert, als wären sie von grobschlächtigen Riesen dorthin gestellt worden.
In den über 100 Gräbern von Son Real wurden in den 1960er Jahren die Überreste zahlreicher Menschen gefunden, samt Waffen, Schmuck und anderen Grabbeigaben. Nach Erkenntnissen der Forscher waren es allesamt Angehörige der Oberschicht. Wer es sich leisten konnte, baute eben schon damals am Meer. Im Übrigen weiß man noch immer wenig über diese Kultur aus der späten Bronzezeit. Sollten durch die Löcher in einigen der Decksteinen die Seelen der Toten entfleuchen?
Der prähistorische Friedhof ist eine Ausgrabungsstätte erster Güte, allerdings wird er nicht so präsentiert; an dieser Stelle hat die Insel ihr touristisches Potenzial noch keineswegs ausgeschöpft. Bis auf ein einzelnes, lieblos gestaltetes Schild gibt es keine Informationen. Strandurlauber breiten auf den Gräbern ihre Handtücher aus und lassen sich dort braten. Ohne es zu ahnen, sehen sie an dieser Stelle aus wie Menschenopfer für den Sonnengott. Was beweist: Selbst auf Mallorca gibt es immer noch etwas zu entdecken. Zuweilen müsste man nur mal unter seinem Badehandtuch nachschauen.