Herzrasen und Treffer
In Niederthai im Ötztal können Urlauber wie echte Biathleten auf die Piste gehen und schießen. Nur nicht mit scharfer Munition.
Der Sport ist dynamisch und elegant zugleich. Die Kulisse ein Traum: schneeweiße Loipe vor dunkelgrünem Wald. Der Zuschauer kann sehen, wer auf der Überholspur naht, und hören, wer die Schießscheibe trifft. Wenn die Skijäger auf Medaillenjagd sind, drücken Millionen am Fernseher die Daumen. Biathlon hat die höchste Zuschauerquote aller Wintersportarten.
Im beschaulichen 360-Seelen-Dorf Niederthai, in einem Seitenarm des Tiroler Ötztals gelegen, können Wintergäste selbst ausprobieren, was es heißt, im Skaterstil auf die Schießanlage zuzubrettern, liegend und stehend die Klappscheibe anzuvisieren und weiter in Richtung Ziellinie zu rennen (oder auf die Strafrunden zu gehen). Die Angst vor Querschlägern ist unbegründet: Die vier Kilo schweren Profi-Gewehre senden kein Geschoss aus, sondern einen Laserstrahl. Der Schnupper-Biathlet weiß im Sekunden-Bruchteil, ob er einen Treffer oder eine Fahrkarte produziert hat.
Das Herz der Niederthaier Sport-Aktivitäten ist der Sportplatz. Wo im Sommer die Burschen Fußball spielen, steht in der Wintersaison ein Riesen-Schneemann. Um ihn herum führt die letzte Runde der Biathlon-Strecke, zu seinen Füßen werden an drei Ständen je fünf Schuss abgefeuert. Das optische Visier hat beim Biathlon-Gewehr keine Kimme, sondern einen Kreis. Der sollte im Stehen auf dem 11,5-Zentimeter-Treffpunkt der Zielscheibe liegen, im Liegen auf einem 4,5-Zentimeter-Kreis. Das ist auf 50 Metern Distanz nicht viel mehr als Fliegendreck. Und der Puls schlägt vom Skilauf auf Hochtouren.
„Beide Arme bilden ein stabiles Dreieck“, bringt der Diplom-Langlauflehrer Michael Leiter seinen Schülern bei. Wer das gut macht, hält sein Gewehr ruhig und hört zur Belohnung das Treffer-Klacken, wie beim echten Wettkampf. Oder aber er passt nicht höllisch auf und trifft dann die falsche Scheibe. Wie Magdalena Neuner 2010 beim Weltcup in Nove Mesto in Tschechien. Sie hatte als Erste den Schießstand erreicht, erzielte fünf Treffer — aber vier davon auf der Nachbarscheibe. „Ich habe geheult“, erinnert sich die Biathletin aus Garmisch-Partenkirchen, die zweimal Olympia-Gold, zwölf WM-Titel und dreimal den Gesamt-Weltcup gewann.
In Niederthai sind nicht nur die Möchtegern-Biathleten in ihrem Element, sondern auch die „Zwergerl“. Für die Jüngsten ist eine Rutschbahn aufgeschüttet, die sie juchzend in sogenannten Snow-Tubes herunterrutschen, einer Art dicker Autoreifen-Schläuche. Der Rutsch-Berg ist ein Abfallprodukt, wenn jedes Jahr zu Beginn der Wintersaison der weithin sichtbare Riesen-schneemann aufgeschüttet und modelliert wird. Der ist zurzeit — der Zylinderhut nicht eingerechnet — 12,50 Meter hoch und bleibt bis Ostern stehen. Niederthai ist nämlich schneesicher.
Beim Stichwort Ötztal fallen gleich Ortsnamen wie Sölden, Obergurgl, Hochgurgl. Dort ist die Alpin-Szene zu Hause, nachts brummt der Après-Ski-Bär. Niederthai ist da eher der Gegenentwurf. „Die ruhige Seite“, nennt der Leitner Michl seine Heimat, „keine Hauptstraße, keine Gefahrenzone, ideal für Naturliebhaber, Wanderer, Familien.“ Am Abend sitzt man in gemütlicher Runde in der Unterkunft beisammen.
Und was macht man tagsüber? Ski-Langlauf auf 30 Pistenkilometern in allen Schwierigkeitsgraden, montags bis freitags sogar auf einer beleuchteten Nachtloipe. Oder Schneeschuhwanderungen, etwa die 200 Höhenmeter zur Larstigalm, auf der man einen Rodelschlitten für die Abfahrt ausleihen kann. Und selbstverständlich Ski und Snowboard fahren. Bei drei Schleppliften und vier Kilometern Abfahrt braucht niemand Sorge zu haben, dass die Kinder sich verlaufen oder dass im Gewühl ein Unfall passiert. Nur die Sonnencreme sollte man nicht vergessen. Auf dem Hochplateau kann an Wintertagen bis zu vier Stunden die Sonne scheinen.
Skilaufen — alpin wie nordisch — ist heutzutage eine Materialschlacht. Die Langlauf-Bretter aus Kunststoff haben in der Steig-Zone unter der Sohle künstliches Fell oder Schuppen, die beim Vorwärts-Gleiten festen Stand sichern. Die Schuhe sind verwindungsfrei und sitzen angegossen wie Handschuhe. Moderne Stöcke sind aus Karbon — steifer und leichter geht’s nicht. Da kommen schnell Ausgaben von etlichen hundert Euro zusammen. Michael Leitner: „Besser man leiht sich für ein paar Tage eine Ausrüstung, als dass man mit Sonderangeboten umanand rutscht.“
An dieser Stelle muss man ein Wort zum Ötztaler Dialekt sagen. Der ist Unesco-Weltkulturerbe, weil er eine lebende Umgangssprache ist, mit der die Kinder wie selbstverständlich aufwachsen und miteinander reden. Auch die Erwachsenen pflegen ihre Mundart. Im Gasthof Krone im Hauptort Umhausen steht zum Beispiel „A Pfandle Earäpfle-Gemiesegreaschtle mit an Goggele“ auf der Speisenkarte. Und als Service die Übersetzung ins Hochdeutsche gleich darunter: Kartoffel-Gemüsegröstel im Pfännchen mit einem Spiegelei. Wer den Dialekt verstehen will, findet im Internet ein Wörterbuch mit 116 wichtigen Ötztaler Begriffen von A (allweite bedeutet im Freien) bis züe (geschlossen). Plus Lautschrift, versteht sich.
Aber man spricht auch Hochdeutsch. Als Mitte Januar in einer Nacht auf Sonntag „öbndöbm“ (obendroben) in Niederthai ein halber Meter Neuschnee gefallen war und in kurzer Zeit alle verfügbaren Traktoren, Pistenraupen, Schneefräsen und Mitarbeiter mit Schaufeln im Einsatz waren, sagte selbst der bedächtige Hotel-Gastgeber Peter Falkner mit Hochachtung: „Es hat echt sehr viel Schnee!“