„Indiens Moralkrise“ - sind Ausländerinnen noch sicher?

Neu Delhi (dpa) - Keine drei Monate ist die Gruppenvergewaltigung einer jungen Inderin her, nun ist eine Schweizerin zum Opfer sexueller Gewalt geworden. Westliche Außenministerien raten Touristinnen explizit zur Vorsicht.

Landeskenner warnen davor, Indien zu verteufeln.

Wieder macht eine Gruppenvergewaltigung in Indien international Schlagzeilen. Diesmal ist eine Schweizer Touristin zum Opfer sexueller Gewalt geworden - knapp drei Monate nach der brutalen Vergewaltigung einer 23-jährigen Inderin in Neu Delhi, die kurz darauf an ihren Verletzungen starb. Der Fall im Dezember erschütterte die Welt und richtete ein Schlaglicht darauf, wie wenig Frauen in Indien häufig zählen. Schon das war ein schwerer Imageschaden für die aufstrebende Wirtschaftsmacht, die sich gerne als größte Demokratie der Welt porträtiert. Nun stellt sich die Frage: Wie gefährdet sind Ausländerinnen in dem asiatischen Staat?

Dass sexuelle Gewalt ein großes gesellschaftliches Problem in Indien ist, hat inzwischen auch die Regierung anerkannt. Ihre Gesetzesentwürfe, die bei extremen Vergewaltigungsfällen die Todesstrafe vorsehen, warten auf Verabschiedung durch das Parlament. 2011 wurden landesweit 24 200 Vergewaltigungen bei der Polizei gemeldet, die tatsächliche Zahl der Fälle dürfte aber um ein Vielfaches höher liegen. Frauen zeigen die Übergriffe oft nicht an, weil sie Angst um die Familienehre haben, oder weil sie von den Tätern oder auch der Polizei eingeschüchtert werden.

Das Problem ist nicht neu, durch die Gruppenvergewaltigung vom Dezember ist es allerdings zu einem Thema geworden, das nicht mehr totgeschwiegen wird. Seitdem melden die Zeitungen täglich Fälle, die an Bestialität oft ihresgleichen suchen. Nur eines von Dutzenden Beispielen: Im vergangenen Monat wurde eine Sechsjährige in einem Vorort von Neu Delhi entführt und vergewaltigt. Ein Passant fand das Mädchen am Straßenrand, als es wimmernd in seinem eigenen Blut lag.

Auch Ausländerinnen wurden in Indien früher bereits zum Opfer von Vergewaltigungen. Hier gilt ebenfalls, dass die Vorfälle vor der Tat vom Dezember weniger Aufmerksamkeit erfuhren. Bereits 2003 wurde eine Schweizer Diplomatin von zwei Männern in einem Auto vergewaltigt. Die Täter wurden nie gefunden, die Polizei stellte den Fall 2008 stillschweigend ein.

Erst vor wenigen Tagen wurde ein Inder gefasst, der wegen der Vergewaltigung einer Deutschen verurteilt worden war, dann aber sechs Jahre unter falschem Namen untertauchte. Im vergangenen Monat wurde eine Südkoreanerin in ihrem Hotel vergewaltigt - im Bundesstaat Madhya Pradesh, wo nun auch die Schweizerin zum Opfer wurde.

Zwar ist die Gefahr für Ausländerinnen real - statistisch gesehen ist sie bei jährlich mehr als sechs Millionen (männlichen und weiblichen) Touristen, die Indien besuchen, aber immer noch gering. Dennoch raten auch westliche Außenministerien schon seit einiger Zeit zur Vorsicht. „Neue sexuelle Angriffe gegen Besucherinnen in Touristengegenden und Städten zeigen, dass ausländische Frauen auch einem Risiko ausgesetzt sind“, teilt das britische Ministerium mit.

„Während Indien generell sicher für ausländische Besucher ist, ist Vergewaltigung den jüngsten Zahlen der indischen Behörden zufolge die am schnellsten zunehmende Straftat in Indien“, heißt es auf der Homepage des US-Außenministeriums. „Frauen sollten strikte Sicherheitsvorkehrungen beachten.“ Auch das Auswärtige Amt in Berlin rät besonders Frauen, sich „stets von Vorsicht“ leiten zu lassen.

„Indiens Moralkrise“, titelte die indische Nachrichtenseite „Firstpost“ angesichts der Reisehinweise aus dem Westen. „Reise-Vergewaltigungswarnungen sind jetzt Realität.“ Und im Text heißt es: „Warum zum Henker sollte eine Frau unter solchen erschreckenden Umständen nach Indien reisen? (...) Vielleicht ist es besser, die Zentralafrikanische Republik zu besuchen.“

Westliche Landeskenner warnen allerdings davor, Indien nun zu Unrecht als No-Go-Area für Ausländerinnen zu verteufeln. „Ich fühle mich immer noch ziemlich sicher“, sagt eine Schweizerin, die nicht namentlich genannt werden will. Sie arbeitet seit drei Jahren in der Hauptstadt Neu Delhi und reist auch alleine durch das Land.

In Neu Delhi gehe sie zwar nachts nicht alleine durch die Straßen, Taxis oder die Frauenabteile der Metro seien aber unproblematisch. Außerhalb der Städte empfinde sie die Menschen als gastfreundlich. „Gelegentliche anzügliche Blicke von Männern gehören leider zum Alltag“, sagt die 33-Jährige, „aber die muss man ignorieren.“