Mit dem E-Bike in der Schwäbischen Alb
Ein ehemaliger Militärübungsplatz ist heute ein beschaulicher Ort für Naturfreunde.
Münsingen. Wer auf der Autobahn 8 zwischen Karlsruhe und Ulm den Drackensteiner Hang hinaufgefahren ist, passiert bei Hohenstadt ein blaues Hinweisschild: Europäische Wasserscheide, 785 Meter über NN. Auf der nördlichen Seite fließen alle Gewässer in den Rhein, auf der Südseite in die Donau. Dort oben haben die meisten Autofahrer nur einen Gedanken: Weiter, weiter, in Richtung Allgäu und Alpen. Sie verpassen eine der atemberaubendsten deutschen Mittelgebirgslandschaften, die Schwäbische Alb.
Zum Beispiel das Fachwerk-Städtchen Münsingen im heutigen Kreis Reutlingen. Schon 1654 war es ein Verwaltungsmittelpunkt im Herzogtum Württemberg. 1895 wurde dort, auf der kaum besiedelten Münsinger Hardt, einer der ersten modernen Militär-Übungsplätze im Deutschen Reich eingerichtet und im Laufe der Jahre auf 6700 Hektar erweitert. Das sind 67 Quadratkilometer.
Mehr als 100 Jahre lang war die Luft auf der streng abgesperrten Münsinger Hardt im wahrsten Sinne des Wortes eisenhaltig. Württemberger und Wehrmachts-Soldaten, Armée française und Bundeswehr schossen mit Gewehrgranaten und Panzerfäusten, mit Haubitzen und Kanonen, mit Panzern und aus Flugzeugen auf gewachsene und aufgebaute Übungs-Ziele. Schwerste Räder- und Kettenfahrzeuge durchwühlten den mit Munition verseuchten Boden. Als der Verfasser dieser Zeilen 1967 zum Artillerieschießen nach Münsingen kam, sprachen die Wehrpflichtigen von „Schwäbisch Sibirien.“
Das hat sich grundlegend geändert. Als 2005 die letzten Soldaten Münsingen verließen, hatten 39 anliegende Gemeinden, drei Landkreise, das Land Baden-Württemberg und der Bund bereits einen konkreten Plan. Münsingen wurde zum Herzstück eines 85 000 Hektar großen Biosphären-Gebiets — einer unter Naturschutz stehenden Kulturlandschaft. Die Welt-Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur gab 2009 dem Projekt seinen Segen in Form eines Unesco-Labels.
Von Menschenhand wurde der Schießplatz wieder nutzbar gemacht. Auf 38 Kilometern ehemaliger Panzer-Ringstraße kann heute die schwäbische Autoindustrie Fahrzeuge und dazugehörige Komponenten testen. Abseits der Betonpiste dürfen sich auf markierten, sicheren Pfaden nur Wanderer und Radfahrer bewegen. Dazu wurden die Wege selbst und der Wegrand rechts und links ausgehoben, auf Kampfstoffreste kontrolliert, wieder aufgefüllt und geteert.
Auch die Natur hat sich ihr Eigentum zurückgeholt: Ein Drittel Wald, zwei Drittel Heide- und Weideland, auf dem heute 15 Wander-Schäfer rund 20 000 Muterschafe mit ihren Lämmern grasen lassen. Auf einem Gelände, das als unvermint freigegeben ist. Uralte Streuobstbäume werden wieder abgeerntet, 90 seltene Vogelarten können beobachtet werden, Schmetterlinge in allen Farben flattern umher. Die Familien der 1937 ausgesiedelten Bewohner des Dorfes Gruorn haben ihre verfallene Kirche wieder ansehnlich aufgebaut und im alten Schulhaus, zwischenzeitlich Schießscheiben-Lager, ein Heimatmuseum eingerichtet.
Die Stadt Münsingen, in ihrer Infrastruktur über Jahrzehnte auf die Versorgung von rund 2000 Soldaten eingerichtet, setzt heute auf sanften Tourismus. Mit dem Fahrrad, mit Kanus auf dem Lauter-Flüsschen, mit historischen Schienenbussen und Dampfzügen der Schwäbischen Alb-Bahn und mit einem regelmäßig verkehrenden Biosphären-Bus geht es in die Umgebung. Die ist von lärmendem Massentourismus noch verschont: urtümliche Hang- und Schluchtenwälder, Weitblick auf Alb-Hochflächen, bunte Felder, auf denen der rote Mohn leuchtet und die blau blühende Alb-Linse dem Getreide Halt gibt. Das Ausflugziel heißt Natur.
Das ideale Vehikel für solche Touren ist das elektrisch unterstützte Fahrrad. Münsingen betreibt ein Touristik-Informations-Zentrum, das von einem Rad-Profi geführt wird. Hans-Peter Engelhart (38), früher Straßenrennfahrer, ist amtierender Deutscher E-Mountainbike-Meister 2016. Im Frühjahr bewältigte er in Pfronten einen 28-Kilometer-Kurs mit 1200 Höhenmetern in 1:03 Stunden als Sieger — ein Schnitt von rund 27 Stundenkilometern.
Klar, dass in Münsingen E-Bike auf hohem Niveau gefahren wird. Im Mobilitätszentrum am Bahnhof warten top-gepflegte Zweiräder auf Miet-Kunden — alle ausgerüstet mit Elektro-Antrieben auf dem neuesten Stand der Entwicklung. Wer aufs Miet-Rad steigt, hat einen großflächigen Navigations-Bildschirm vor sich. Fünf Haupt-Touren sind auf Knopfdruck abrufbar, jede Wegkreuzung, jeder Abzweig. Hinzu kommen Streckenprofil-Grafiken, Informationen über zurückgelegte Kilometer, die noch zu bewältigende Strecke, verbrauchte Kalorien, aktuelle Batterieladung und, und, und.
Wir fahren „Tour 4“, Überschrift: „Burgen im Großen Lautertal — Wimsen-Marbach“. 58,8 Kilometer, die es in sich haben: 795 Höhenmeter bergauf, mit Extra-Schleifen sind es am Ende des Tages 65 Kilometer. Am Wege die Wimser Höhle, in die man mit einem Boot einfahren kann, Speidel’s Braumanufaktur in Ödenwaldstetten, das Staatsgestüt Marbach mit seinen Hengstparaden. Eine Tour, auf der man sich einen schwäbischen Klassiker als Abendessen redlich verdient hat: Maultaschen, geschmelzte Zwiebeln, Kartoffelsalat. Dazu ein großes Berg-Bier. Man wird mutig, wenn ein 500-Watt-Akku die Tret-Leistung nachdrücklich unterstützt. Unterwegs haben wir aus dem Lautertal hoch oben die Burgruine Hohengundelfingen gesehen. „Da fahren wir jetzt mal rauf“, hat der Profi den E-Bike-Anfänger gelockt. Nach zwei Kilometern Aufstieg, 100 Höhenmetern und 20 Prozent Steigung im steilsten Stück, dreht sich Hans-Peter Engelhart um und freut sich über den Strampler in seinem Windschatten: „Du lächelst ja immer noch.“