Seelenreise auf dem Pilgerweg
Wer im Südosten wandert, begibt sich auf eine besondere Reise in die Natur und zu sich selbst. Wenn Muskelkater und Philosophie Hand in Hand gehen.
Japan. Do. Der Weg. Der das Ziel sein soll. Doch wer in den Bergen und Wäldern im Südosten Japans unterwegs ist, wird eines Besseren belehrt: Der Rückweg ist entscheidend.
Durch die dichten Baumkronen fällt kaum Licht auf den Boden aus brauner Erde, der nur spärlich mit Farnen bewachsen ist. Der Geruch von Pilzen liegt in der Luft, steigt aus feuchter Erde. Die dumpfen Trittgeräusche klingen beinahe hohl auf dem Waldboden. Niemand spricht. Der schmale Pfad windet sich kurvig über die dicht bewaldeten Berge. "Man braucht für eine knapp 15 Kilometer lange Strecke manchmal einen ganzen Tag", sagt Brad Towle. "Das liegt an den vielen Höhenmetern, da es hier ständig rauf und runter geht." Die kleine Gruppe Wanderer hat das längst in den eigenen Beinen zu spüren bekommen, obwohl die Berge hier nur zwischen 1000 und 2000 Metern hoch sind.
Manchmal endet der Weg plötzlich an einer steilen Treppe, die dürftig mit Holzplanken in den Berg gehauen ist. 50 Stufen sind keine Seltenheit, brennende Oberschenkel gehören dazu. Schweigend gehen die Hobbywanderer weiter, nur Brad scheint mit jedem Kilometer gesprächiger zu werden. Der 37-jährige Kanadier lebt bereits seit mehr als zehn Jahren an der Ostküste Japans und hat sich ganz dem Projekt Pilgerweg samt seiner touristischen Herausforderungen verschrieben. "Ich liebe die Berge", erzählt er und tanzt förmlich den steilen Hang hinauf. Nicht, dass Kanada nicht auch welche hätte. Aber Japan ist eben etwas ganz Besonderes.
Tatsächlich. Wer innehält und in die Stille hinein lauscht, die frische Luft einatmet, merkt es selbst: Irgendwie scheint über dem gesamten Pilgerweg, den schon vor tausend Jahren die ersten Mönche und Gläubigen entlang zogen, etwas Spirituelles zu schweben. Und das liegt nicht nur an den zahlreichen kleinen Gebetsstätten am Wegesrand. Figuren aus Steinen mit winzigen bunten Stoffstücken bekleidet, neben denen ein paar Blumen aus einem kleinen Beet oder aus einer Vase blühen.
Die Steinfiguren haben einen Geheimcode: Der "Körperteil", der mit Stoff bedeckt ist oder durch Symbole besonders präsentiert wird, soll Heilung erfahren können. Das reicht vom plötzlich gesunden Rücken über kariesfreie Zähne bis hin zum Verhindern eines Genickbruchs. Für alles können Pilger hier beten, Münzen unter Steine legen und Räucherstäbchen anzünden.
Brad Towle, Direktor des Tourismus-Büros Kumano
Fünf Pilgerrouten führen zu den wichtigsten Shintu-Schreinen und bilden ein Netz an Strecken durch Berge, Wälder und an den beiden Küstenlinien entlang. Von Kyoto aus sind es 30 bis 40 Tageswanderungen bis nach Shingu an die Ostküste, von wo aus die drei großen Schreine Kumano Sanzan in wenigen Gehminuten zu erreichen sind. Direkt in Shingu steht der Kumano Hayatama Taisha, ein beliebtes Ziel, das auch mit Pkw und Bussen angefahren werden kann. Aber echte Pilger gehen eben zu Fuß, selbst wenn die Schuhe langsam drücken und der Rucksack schwer wird.
Auch, wenn die Schreine das Ziel der Wanderung sind, das Wichtigste sei der Rückweg, erklärt Brad. "Wer geläutert am Haupttempel ankommt, der muss von dort weggehend ein besserer Mensch sein. Mit dem Rückweg ist das ganze restliche Leben gemeint."
Da hatten es die Pilger vor hunderten von Jahren einfacher, denn sie wurden nicht abgelenkt von bunt-glitzernden Schlüsselanhängern, die es auf dem Tempelgelände ebenso zu kaufen gibt wie in Tüten abgepackte Nüsse, Früchte oder in Plastik verschweißte Süßigkeiten. Knallbunt - zumindest aber pink. Gleich daneben: zwei Getränkeautomaten, wie sie in Japan überall stehen. An jeder Straße, in jedem kleinen Ort, an jeder Sehenswürdigkeit. Darin locken kalte und heiße Getränke vom grünen Tee über Milchkaffee bis zu Cola aus Aluminiumflaschen. Und wie überall stehen junge Mädchen davor, die ausgeflippte Klamotten, viel zu kurze Röcke und viel zu hohe Absätze tragen. Die Jungs tragen ihre blond oder rot gefärbten Haare zu Strubbelfrisuren hochgegelt, Nietengürtel über den Jeans und Cowboystiefel.
Wenige Meter entfernt predigt ein buddhistischer Priester in dem offenen Gebetsraum des Tempels, vor dessen strahlend weißen Wänden die hellroten Holzbalken beinahe leuchten. Drei Stufen müssen Betende hinauf, vorher ziehen sie an einer mächtigen gusseisernen Glocke, damit Buddha auf sie aufmerksam wird. Der shintoistische Naturglaube hat sich in Japan schon vor langer Zeit mit dem Buddhismus vermischt, heute sind sie fast nicht mehr voneinander zu trennen. Wer auf den traditionellen Pilgerwegen wandert, kommt neben dem geistigen Genuss, sich auf eine Philosophie des Naturglaubens einzulassen, auch auf einen körperlichen: den Onsen. Die berühmten heißen Quellen sprudeln überall aus der Erde, ihre mineralische Zusammensetzung variiert. Dennoch: "Es ist sehr gesund, darin zu baden und macht schön", behauptet Keiko lachend. Die Japanerin aus Kyoto ist Mitte 50 und hat außer zwei winzigen Lachfältchen neben den Augen keine noch so feine Linie im Gesicht.
Diese Quellen sind als öffentliche Bäder angelegt. Oder ihr Wasser fließt in ein kniehohes Becken, in dem Tische stehen und ringsum Bänke befestigt sind. Die Speisekarten auf den Tischen verraten: Wer dieses Restaurant besucht, genießt den ganz besonderen Komfort, seine müden Füße während des Essens oder zu einem eiskalten japanischen Bier in fast heißem Quellwasser zu baden.
Doch auch dies tun echte Pilger nicht, wie Keiko wenig später demonstriert. Denn für die Wandergruppe endet der Tag in einem typisch japanischen Hotel, in dem - wie überall - bereits an der Eingangstür die Schuhe ausgezogen werden müssen. In Zoris geht es für die Neuankömmlinge weiter, in den Zimmern liegen kimonoartige dünne Stoffmäntel und Zehensocken bereit. Wer hier wohnt, trägt weder Jeans noch T-Shirt.
Vor dem Essen zeigt Keiko den Weg in die hauseigenen Onsen: draußen, mitten im Flussbett. Der heiße Dunst zieht in weißen Schwaden durch die kalte Abendluft, das Wasser aus der Quelle ist hier noch etwa 43 Grad warm. Ein grandioses Erlebnis, in freier Natur unter sternenklarem Himmel irgendwo mitten in den Bergen zu baden - nur mit einer Mütze bekleidet, um den Kopf warm zu halten.
Schon nach wenigen Minuten sind die schmerzenden Beine vergessen, niemand will jemals wieder aus dem steinernen Becken steigen. Vor allem will niemand an die nächste Wanderetappe denken. Doch auch an deren Ende wird eine heiße Quelle warten, um für Erholung und Schönheit zu sorgen.