„Sierra High Route“: Skitour in der kalifornischen Wildnis
Independence (dpa/tmn) - Die „Haute Route“ in den Alpen ist als Königin der Skitouren bekannt. Und überlaufen. Die kalifornische „High Route“ ist dagegen ein Geheimtipp für Abenteurer, die menschenleere Wildnis erleben möchten.
Wie ein erhobener Zeigefinger ragt der schroffe Milestone Mountain in den blauen kalifornischen Himmel. Knapp 4160 Meter hoch, mitten in der Wildnis der Sierra Nevada. Ein perfekter Wegweiser in der verschneiten Bergwelt, der schon von weitem mulmige Gefühle auslöst. Über den 4000 Meter hohen Milestone Pass, knapp unterhalb des Gipfels, führt die „Sierra High Route“. Es ist der höchste und gleichzeitig am meisten gefürchtete Punkt auf der klassischen Skitour.
Da gibt's kein Entweichen. Von hier zum nächsten Ort sind es 40 Kilometer zurück gen Westen oder 20 Kilometer vorwärts Richtung Osten. Das Handy funktioniert in der weißen Einöde längst nicht mehr, von menschlicher Zivilisation keine Spur. Keine Pisten, keine Skilifte, erst recht keine Hütten, in denen man gemütlich Zuflucht suchen könnte. Die einwöchige Durchquerung der kalifornischen Sierra Nevada auf Skiern ist Abenteuer pur in einsamer Natur.
Sie ist längst nicht so bekannt wie die „Haute Route“ von Chamonix nach Zermatt, die jährlich von Tausenden Skitourengängern bezwungen wird. Der „Hohe Weg“ vor der Kulisse von Mont Blanc, Matterhorn und Monte Rosa geht an bewirtschafteten Hütten vorbei und führt durch Täler, von denen man schnell in Ortschaften abfahren kann.
„Das ist Äpfel mit Birnen vergleichen“, meint Bergführer Bela Vadasz. Der 59-jährige gebürtige Ungar, den es als Kind nach Kalifornien verschlug, kennt beide Routen wie seine Westentasche. Dutzende Male hat er die Alpen und die Sierra Nevada auf Skiern durchquert. „Die Alpenroute hat faszinierende Bergkulissen und fantastische Abfahrten. Aber man fährt mit Bergbahnen hoch, sitzt in Hütten, kann telefonieren und duschen. Die Sierra Nevada dagegen bietet echte Wildnis. Hier baut man sein Zelt irgendwo auf und ist ganz auf sich gestellt“.
Mit fünf Freunden trifft der begeisterte Tourenskiläufer in der Wuksachi-Lodge, am Eingang des Sequoia National Park, die letzten Vorbereitungen. Jedes unnötige Gramm wird aussortiert. Schritt für Schritt passt sich der Körper keuchend an die Höhe an. Auf 3000 Metern glitzert es endlich. Das schneebedeckte Tableland-Plateau ist ein Vorbote für das Naturerlebnis, das die Sierra-Bezwinger in den nächsten sechs Tagen erwartet: zackige Granitberge und steile Felsschluchten neben weiß verschneiten Tälern mit endlosen Abfahrten.
Neun hohe Pässe werden auf der über 60 Kilometer langen „High Route“ überquert. Die meiste Zeit verbringt man auf einer Höhe von über 3500 Metern, weit über der Baumgrenze, um einiges höher als die Alpenroute. Am Ende ist der zackige Grat von Mount Whitney, mit 4421 Metern der höchste Berg der USA außerhalb Alaskas, zum Greifen nah.
„Man muss kein Ski-Experte sein, um die Sierra zu durchqueren“, meint Bela Vadasz. „Teamgeist und Fitness sind wichtiger. Und die Bereitschaft, viele Meilen zurückzulegen. Hier geht es nicht um die steilsten, längsten Abfahrten, sondern darum, die Schönheit der Wildnis zu erleben“.
„So weit weg von Straßen, Telefonen und den üblichen Geräuschen, da muss man sich erst mal an die Stille gewöhnen“, meint der Wahlkalifornier James Parker. „Das krempelt total deine Sinne um und öffnet dir eine völlig andere Welt“, schwärmt der kanadische Elektroingenieur. Mit dicker Daunenjacke und Eispickel hockt er am Rand des zugefrorenen Glacier Sees. Auf 3500 Metern das höchste Camp, umgeben von steilen Bergflanken. Er muss ein Loch in die Eisdecke schlagen und Wasser holen, die anderen bauen die Zelte auf.
Fast geschafft. Tracy Krakowski steht am Rand des über 3600 Meter hohen Shepherd Passes. Der hat seinen Namen von den Schäfern, die im Sommer ihre Tiere hoch in die Berge treiben. „Bei der letzten Abfahrt hatte ich Tränen in den Augen“, gesteht die Computerfachfrau. Nicht etwa von dem Wind, der am letzten Tag scharf weht. „Es ist das tolle Gefühl, etwas auf den ersten Blick Unmögliches geschafft zu haben“, strahlt die gebürtige Kanadierin.
Nun sind es nur noch 1800 Meter bergab, vom Schnee ins trockene Owens-Tal, im Zick-Zack-Kurs den Shepherd Wanderweg hinunter. Endpunkt ist der Symmes Creek Parkplatz, nahe der kleinen Ortschaft Independence an der Ostseite der Sierra Nevada. Anfangs zählt man die Serpentinen noch mit, doch nach drei Dutzend Kehrtwenden schwirrt der Kopf. Der Rucksack mit den aufgeschnallten Skiern ist kaum noch zu spüren. Die Blasen an den Füßen sollten brennen, die Zehen in den Skistiefeln auf dem steilen Abstieg drücken. Doch irgendwie fühlt man sich total „high“. Auch am tiefsten Punkt der „Sierra High Route“.