St. Gallen: Windschief und gemütlich
Die wunderlichen Attraktionen der Stadt hängen an den Fassaden und Erkern.
St. Gallen. Achtung, St. Gallen kann gefährlich werden: Genickstarre, ein offener Mund und eine dicke Beule am Kopf - vom Laternenpfahl. Das sind die Symptome. Denn viele Sehenswürdigkeiten der Kantonshauptstadt in der Schweiz liegen ein paar Meter über dem Boden, darunter schmucke Erker, Fresken an verzierten Jugendstilhäusern und die Kneipen, die hier "Erststockbeizen" heißen.
Da heißt es dann "Kopf hoch". Selbst in der größten Attraktion, dem zum Unesco-Weltkulturerbe zählenden Kloster-Areal, wird der Blick der Besucher nach oben gelenkt: Die üppig-barocke Kathedrale und die berühmte Stiftsbibliothek zieren wunderschön gestaltete Decken.
Gut, dass wenigstens die Künstlerin Pipilotti Rist für entspannte Halsmuskeln sorgt - mit ihrem "Roten Teppich". So nennen die St. Galler das knallrot bemalte Areal im alten Bleicheviertel, das sich immer im Sommer zu einer munteren Partymeile mausert.
Rot ist das Pflaster, rot sind die steinernen "Loungemöbel", und rot ist der ebenfalls steinerne Porsche inklusive Beton-Strafzettel an der Windschutzscheibe. Das Ganze ist ein hübscher Spaß, und die traditionsreiche Stadt beweist, dass sie auch moderne Seiten hat.
St. Gallen nimmt den Touristen erst einmal mit seiner mehr als 1000Jahre alten und wie auf einem Präsentierteller liegenden Historie in Beschlag. Wer seinen Besuch am Bahnhof beginnt, ist erstaunt über die Weite des Bahnhofsplatzes und das mächtige Hauptpostamt. "Man wollte Weltoffenheit zeigen", erklärt Claudia Schneider, während sie Besucher durch die Stadt führt.
Man - das waren Textilhändler. Um das Jahr 1910 kamen 50 Prozent der Weltstickerei-Produktion aus St.Gallen. Die Textilbarone bauten ihre Geschäftshäuser, Villen und Museen im Jugendstil. Noch heute sind die teilweise prächtigen Verzierungen an den Fassaden zu bestaunen.
Der Weg führt bald in Altstadtgassen, deren Erker eine Augenweide sind. Der "Pelikan-Erker" in der Schmiedgasse, der "Kugel-Erker" in der gleichnamigen Straße und der spätmittelalterliche Erker im "Haus zur Greif" in der Gallusstraße: Sie alle bieten reiche Ornamente. Besonders jetzt, in der Vorweihnachtszeit, zieht es Besucher ins nahe Klosterareal.
Dort steht ein großer Weihnachtsbaum, jedes Jahr von Designstudenten neu dekoriert - was bei allzu moderner Interpretation hin und wieder heftige Diskussionen auslöst. Unweit des Klosters lockt der Weihnachtsmarkt mit 60 Ständen vom 28. November bis Heiligabend. Dann drängeln sich nicht jeden Tag Tausende vor der Stiftsbibliothek, der barocken "Seelenapotheke", wie über der Eingangstür in Altgriechisch steht. Um den Parkettboden zu schützen, stehen genau 120Paar Filzpantoffel bereit - mehr Leute zugleich kommen nicht hinein.
Anschließend ist es Zeit zur weltlichen Einkehr. Die "Erststockbeizen" im Umkreis des Klosters liegen, wie der Name schon sagt, im ersten Stock. Ob im "Bäumli" oder im "Goldenen Schäfli" - die Räume sind klein, manchmal windschief und urgemütlich mit ihrem Jahrhunderte alten Holzbalken.
"Höhere Stände trinken oben", lässt Thomas Hürlimann den sinnesfrohen Bibliothekar in der Novelle "Fräulein Stark" sagen. Vielleicht begegnet man dem trinkfreudigen Gottesmann ja in einer dieser urigen Gaststuben.