Wintersport: Der Zauber des Tourengehens

Auch Anfänger sind beim Skitourengehen fernab der Pisten gut aufgehoben.

Foto: Salzburger Land Tourismus

Düsseldorf. Fritz Stadlers Lieblingsgeste ist die alpine Variante der Becker-Faust. Dazu macht der Bergführer ein entschlossenes Gesicht und sagt Sachen wie „Ihr müsst euch einihaun“ oder „mit mehr Kraft!“.

Was Stadler damit meint, kapiert jeder im Kurs schnell: Skitourengehen erfordert vollen Einsatz. Und zwar vor allem beim Runterfahren. „Das Hochsteigen ist nie das Problem“, sagt Stadler, „das klappt nach ein oder zwei Tagen.“ Die Krux ist das Abfahren im Tiefschnee. „Du musst dich auf einer Abfahrt oft auf drei bis vier unterschiedliche Schneeverhältnisse einstellen.“

Deshalb steht am ersten Tag des Anfängerkurses im österreichischen Nationalpark Hohe Tauern Tiefschneefahren auf dem Lehrplan. Zaghaft rutschen die zehn Teilnehmer über den Rand der Piste hinaus. Stadler erklärt noch mal kurz, wie es eigentlich geht: kurze Schwünge in der Falllinie, bei jedem Schwung mit Druck belasten, die Knie geschlossen halten und immer in Vorlage bleiben. Dann wedelt er mühelos den Hang hinab und jauchzt dabei. Die Anfänger lernen erstmal, auf wie viele Arten man im Tiefschnee stürzen kann. „Heiteres Figurenwerfen“, wie es Stadler am Abend auf der Rudolfshütte nennt.

Der Salzburger ist seit 35 Jahren jeden Winter hier oben, in der Alpenvereinshütte auf 2315 Metern. 13 Wochen lang gibt er Kurse im Skitourengehen, die meisten sind ausgebucht. Der Boom des Tourengehens ist ein Paradoxon. Da werden in den Skigebieten immer schnellere und bequemere Lifte gebaut. Die potenziellen Kunden steigen stattdessen lieber wieder selbst auf den Berg, wie nach dem Krieg, als Fritz Stadler das Skifahren auf Holzplanken ohne richtige Bindung lernte.

Ein Grund für das Revival des Tourengehens ist das verbesserte, leichte Material. „Es ist toll, birgt aber irrsinnig viel Gefahr“, sagt Stadler. „Die Leute glauben, sie könnten sich Sicherheit im Sportgeschäft kaufen. Aber es gibt nur eine Sicherheit, und die ist im Kopf.“ Deshalb nehmen wir am nächsten Morgen erst mal im Kino der Rudolfshütte Platz. Theoriestunde. Stadler erklärt, wie man einen Lawinenlagebericht liest, was Gefahrenstufe zwei bedeutet, und dass man das Lawinensuchgerät immer um den Körper schnallt und nie in den Rucksack steckt.

Dann geht’s los zur ersten Tour. „Nicht steif wie Pinocchio gehen, sondern mit den Hüften nach vorne“, ruft Stadler. Mit gleichmäßigen Schritten gleitet er voran, wir stapfen im Gänsemarsch hinterher. Man hört nichts als das Klacken der Bindungen. Zeit für die nächste Lektion: die Spitzkehre. Mit dieser Technik kann man in steilem Gelände wenden, um in Serpentinen aufzusteigen. Eigentlich nenne man sie heute Kickkehre, sagt Stadler, und führt vor, weshalb. Er setzt den Bergski im 90-Grad-Winkel nach links, dann kickt er mit dem anderen Fuß nach hinten aus und zieht den Ski daneben.

An den Kalser Tauern werden die Felle abgenommen, die Bindung wird auf Abfahrtsmodus gestellt, dann wiederholt sich das Schauspiel des Vortags: Stadler wedelt voran, wir purzeln hinterher. Aber die Höhensonne leuchtet das Dorfertal herrlich aus, und im Tiefschnee fällt man sanft.

Mittagspause, Wurstsemmel und Verschüttetensuche. Gebückt tapsen wir herum, das piepsende LVS-Gerät dicht über dem Schnee. Ein Pärchen streitet über die Richtung und steht ratlos im Schnee. Man möchte nicht mit den beiden in eine Lawine geraten. „Du hast keine Chance, dich selbst auszugraben, du kannst nicht mal den kleinen Finger bewegen“, sagt Fritz Stadler am Abend, nach Sauna und Buffet-Völlerei. Er wurde zweimal unter einer Lawine begraben. „Und einmal bin ich Schuss raus gefahren.“ Skibergsteigen bleibt trotz moderner Technik ein Risikosport. Allein in Österreich gebe es durchschnittlich 25 bis 30 Lawinentote pro Winter.

Eine Herausforderung wird die lange Tour zum Abschluss für alle im Kurs. 800 Höhenmeter aufsteigen — und vor allem abfahren! Die Bedingungen sind perfekt. Die Sonne scheint, ein schwacher Wind bläst Schneeschleier in die Luft. Bald ziehen die ersten ihre Mützen und Handschuhe aus. Zwei Einheimische überholen uns, sie wollen zum Sonnblick, zu einem der Standardgipfel für Tourengeher. Wir sind bescheidener.

„Wir gehen jetzt zur Granatscharte, dann schauen wir rüber nach Italien und fahren heim“, sagt Stadler bei einer Pause oberhalb des Gletschers. Stille und Aussicht sind überwältigend. Ringsum falten sich die weißen Gipfel der Hohen Tauern aus, über allen der Großglockner und der Großvenediger.

Als wir auf der Granatscharte ankommen, sehen wir in der Ferne die Dolomiten leuchten. Spätestens jetzt versteht jeder, warum so viele dem Zauber des Tourengehens erliegen. Und bei der Abfahrt im glitzernden Schnee passiert endlich das, was Fritz Stadler am ersten Abend gesagt hat: „Ihr werdet sehen, irgendwann schnappt der Schalter um.“