Wo einst Panzer rollten - Wandern auf der Schwäbischen Alb
Münsingen (dpa/tmn) - Der ehemalige Truppenübungsplatz Münsingen ist das Herzstück des Biosphärengebietes Schwäbische Alb. Nachdem die Soldaten abgezogen waren, blieb ein Naturparadies zurück.
„Hören Sie etwas?“, fragt Rita Goller die Besucher. Die schütteln die Köpfe. Nein, zu hören ist nichts — kein Laut dringt über die weite Wiesen- und Waldlandschaft, kein Autogeräusch brummt aus der Ferne herüber. Nichts als Stille.
Rita Goller ist TrÜP-Guide in Münsingen auf der Schwäbischen Alb. Die Abkürzung TrüP steht für Truppenübungsplatz. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde auf dem abgesperrten Areal geschossen, Panzer durchpflügten die Landschaft, und Soldaten biwakierten im Schatten alter Buchen. Ende 2005 zog der letzte Soldat ab, zurück blieb eine Kulturlandschaft wie vor 100 Jahren.
Heute erobern Besucher das Areal im Dreieck zwischen Münsingen, Laichingen und Bad Urach. Im denkmalgeschützten Alten Lager aus dem Jahr 1895 gibt es ein Informationszentrum zum Biosphärengebiet Schwäbische Alb, 23 TrÜP-Guides wie Rita Goller bieten für Touristen geführte Exkursionen.
Auf eigene Faust gelangen Besucher von fünf Zugängen auf das Gelände, das von einer 38 Kilometer langen Ringstraße umschlossen wird. Auf der breiten Betonpiste, über die früher Panzer rasselten, rollen heute testweise schnelle Vorserienfahrzeuge.
50 Kilometer umfasst das ausgewiesene Wander- und Radwegenetz, an dessen Verlauf sich Wanderer und Radler strikt halten sollten. Warnschilder mit der Aufschrift „Lebensgefahr“ weisen auf die todbringende Munition im Boden hin, die Zahl der Blindgänger wird auf eine runde halbe Million geschätzt. Allen Besuchern rät Touristenführerin Goller darüber hinaus: „Eine genaue Landkarte des Gebietes, Wasservorrat, Proviant und Regenbekleidung gehören unbedingt ins Gepäck, da man weitgehend auf sich alleine gestellt ist.“ Mobilfunkempfang? An vielen Stellen Fehlanzeige.
Dafür gibt es beispielsweise 200 Jahre alte Buchen zu sehen, deren Laub und Astwerk gleichmäßig abgeschnitten erscheint. Rita Goller erläutert: „Bis dahin recken die Schafe ihre Hälse zum Fressen.“ 16 Wanderschäfer ziehen mit ihren Herden heute wie seit eh und je über das Gelände. Weit mehr als 15 000 Mutterschafe und ihre Lämmer sind es laut Rita Goller. Frühlingsenzian und Silberdistel, Karthäusernelke, Feldthymian, wilder Majoran und Echtes Labkraut schmücken zur Blütezeit das weitläufige Grün. Im Herbst zeigen die Waldungen mit der Laubfärbung ein buntes Bild.
Der ehemalige Truppenübungsplatz ist das Herzstück des Biosphärengebietes Schwäbische Alb. 29 Städte und Gemeinden aus zwei Regierungsbezirken und drei Landkreisen arbeiten gemeinsam an der Weiterentwicklung des 85 300 Hektar großen Gebietes, das in etwa so groß ist wie Berlin.
Viele Partner ziehen bei diesen Bemühungen an einem Strang. 22 Biosphärengastgeber — Restaurants, Hotels und Landgasthöfe — bieten schmackhafte regionale Küche. Und auch außerhalb des Gebietes besinnt man sich auf der Alb mehr und mehr auf die Stärken der Region. Hotelier August Kottmann aus Bad Ditzenbach sagt: „Wenn wir die eigenen Lebensmittel zurückholen, bleibt uns das Pferd auf dem Teller erspart.“
August Kottmann führt seine Gäste über den Streuobstpfad seines Ortes, wo 100 verschiedene Apfel- und 30 Birnensorten wachsen. Alte und fast vergessene Arten sind darunter, die auch auf dem kargen Boden gedeihen. Mit 1,5 Millionen Obstbäumen - Äpfel, Birnen, Zwetschgen und Kirschen - gilt die Alb als größtes zusammenhängendes Streuobstwiesengebiet in Mitteleuropa.
Fast vergessen waren auch die Alb Leisa, die Alblinsen. Vor über 50 Jahren hatten die letzten Bauern den Linsenanbau eingestellt. Doch 1985 begann der ehemalige Biologielehrer Woldemar Mammel wieder damit: „Linsen gedeihen auf den kargen Böden bei uns, schon 500 Jahre vor Christus wurden hier Linsen angebaut.“ Inzwischen schreiben die Alb Leisa eine Erfolgsgeschichte ohnegleichen: Bereits bei 70 Biobauern gedeihen sie heute. „Dennoch können wir die Nachfrage nicht decken“, so Mammels Sohn Lutz.
Das ruhige Albland östlich von Reutlingen war bisher nur bevorzugtes Ziel für Tagesausflügler aus dem Ballungsraum Stuttgart. Doch wer über kurvige Straßen auf die Hochfläche gelangt, kann dort überraschende Entdeckungen machen und will oft länger bleiben. „Die Alb ist vielfältig“, sagt Diplom-Forstwirt Tobias Brammer im Infozentrum am ehemaligen Truppenübungsplatz Münsingen und beginnt zu schwärmen. Von 400 Schlössern, Burgen und Burgruinen, vom Albsteig als einem der schönsten Wanderwege, und natürlich vom ehemaligen Truppenübungsplatz.
Hochprozentig geht es in Deutschlands Whiskyhauptstadt Owen zu. Owen — dem Namen nach könnte der 3500 Einwohner zählende Ort auch in Schottland liegen. Owen wird aber Auen gesprochen, liegt im Biosphärengebiet und lockt Whiskyfreunde von nah und fern an. Destillateur Thomas Rabel und seine beiden Kollegen laden zum Whiskywalk ein. Während der fünfstündigen Wanderung durch Feld und Flur werden in drei Brennereien verschiedene Geschmacksnoten verkostet.
Auch Metzingen mit seinen Mitte der 1990er Jahre entstandenen Factory Outlets von mehr als 60 internationalen Modemarken zählt zum Biosphärengebiet Schwäbische Alb. Das mag angesichts der Zahl von jährlich 3,5 Millionen Besuchern auf den ersten Blick befremdlich erscheinen. Doch die Schwäbin Rita Goller argumentiert: „So wie sich die Natur auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz weiter entwickelt, so entwickeln sich auch die Menschen bei uns weiter.“