Eurovision-Song-Contest ESC-Finale: Manga-Mädchen, Aberglaube und kein bisschen Frieden auf der Krim
Dass Deutschlands Jamie-Lee die null Punkte vom letzten ESC-Finale auswetzen kann, ist unwahrscheinlich — es droht wieder ein Debakel.
Stockholm/Düsseldorf. Wer das beste Lied des ESC-Finales singen wird, steht fest, bevor einer der 26 Kandidaten nur einen einzigen Ton von sich gegeben hat. Während die TV-Zuschauer am Samstagabend über den Grand-Prix-Sieger abstimmen — oder sich mit nationalen Befindlichkeiten beschäftigen — präsentiert der großgewordene Boyband-Sänger Justin Timberlake (32) seine Single „Can’t Stop The Feeling“.
Ein wenig erinnert der Auftritt an Topereignisse in den USA wie den Superbowl, dem Finale der Football-Liga, bei dem die Größen des Pops auftreten. Damit ist es aber auch schon vorbei mit den Gemeinsamkeiten: Den Superbowl sehen weltweit 800 Millionen Menschen, die Show in Stockholm, Heimat des Vorjahresgewinner Måns Zelmerlöw (29), werden um die 200 Millionen einschalten. Darunter erstmals auch Zuschauer aus den USA, der Sender Logo überträgt das grelle Spektakel aus Europa — womit wir wieder bei Herrn Timberlake wären.
Der Ex-Kinderstar hat bereits erreicht, was der deutschen ESC-Hoffnung Jamie-Lee (18) bei einem erfolgreichen Abschneiden blühen könnte — eine Karriere im Musikbusiness. Während Timberlake lange mit dem Image des Milchbubis leben musste, wird Jamie-Lee, die tatsächlich so und mit Nachnamen Kriewitz heißt, in den Medien als „Manga-Mädchen“ durchgereicht.
Was das Manga-Mädchen aber selbst schuld ist, weil sie sich genauso kleidet. Mal mit Kimono-Verschnitt, mal mit quietschebuntem Kleidchen, fast immer mit einem — na ja — passenden Kopfschmuck und anderem Schnickschnack, der der japanischen Comickultur entrissen ist. Düsseldorfer kennen solche Verkleidungen vom jährlichen Japantag.
Wobei es vermutlich mit einem ESC-Sieg für Deutschland ohnehin nichts geben wird. Nach dem Wiener Null-Punkte-Desaster Ann-Sophie (25) im vorigen Jahr haben Buchmacher andere auf der Rechnung. Jamie-Lee gilt mit „Ghost“ als krasse Außenseiterin. Was noch schmeichelhaft formuliert ist, die Wett-Algorithmen von Oddcheck und Eurovisionsworld sehen sie auf dem letzten und vorletzten Platz.
Immerhin der ARD-Unterhaltungschef Thomas Schreiber glaubt tapfer an eine Top-Ten-Platzierung. Vermutlich mit einer Mischung aus Zweckoptimismus und Aberglaube, weil Kriewitz wie die letzte deutsche ESC-Siegerin Lena Meyer-Landrut (25) aus Niedersachsen kommt und der NDR traditionell die ESC-Strippen fürs Erste zieht. 2010 war Lena 19 alt, Jamie-Lee ist 18 — und „gar nicht genervt“ von solchen Vergleichen.
Was für ein stabiles Selbstvertrauen spricht. Am Freitag jedenfalls findet Jamie-Lee in Stockholm „grad alles voll entspannt“ — ganz so, wie es sich für ein fröhliches Manga-Mädchen gehört. Ob das morgen ab 21 Uhr auch so ist, wird sich zeigen müssen. Sie startet auf Platz zehn, nach dem heimbevorteilten Schweden Frans (17) und Amir (30) aus Frankreich.
Der junge Skandinavier peilt mit seinem Gutelauneliedchen „If I Were Sorry“ den siebten Sieg für Schweden an — die Buchmacher trauen ihm allerdings nur einen fünften Platz zu. Amir, von Hause aus Zahnarzt mit entsprechendem Lächeln, landet demnach auf Platz vier. Frankreich ist als einer der fünf größten ESC-Finanziers für das Finale gesetzt gewesen. Was auch Jamie-Lee den Um- oder Irrweg über die beiden Halbfinals erspart hat. 16 Sänger oder Gruppen wurden am Dienstag und Donnerstag aus den insgesamt 42 Teilnehmerländern ausgesiebt.
Geht es allein nach Wettquoten, wird der russische Kandidat Sergei Lasarew (33) in diesem Jahr gewinnen. Russland ist ohnehin Dauerfavorit, und das erste Halbfinale war für Lasarews flotten Song mit dem einfältigen Titel „You Are The Only One“ kein großes Problem. Im vorigen Jahr hagelte es in der Halle wegen der Annexion der Krim allerdings reichlich Buhrufe für Russland.
Politische Störgeräusche, die sich auch in diesem Jahr wiederholen könnten. Denn auch die Ukraine ist im Finale — pikanterweise ebenfalls mit guten Chancen auf einen der vorderen Plätze. In den Wettbüros wird die Krimtatarin Jamala (32) auf Platz drei gehandelt. In ihrem Lied „1944“ besingt sie die Deportation der ethnischen Minderheit unter Stalin. Das darf man getrost als gesungene und getanzte Kritik an Putins Russland verstehen.
In dieser Hinsicht unverdächtig ist die australische Starterin Dami Im (28) mit ihrem „Sound of Silence“. Die Sängerin mit koreanischen Wurzeln beschert dem ESC-verrückten Australiern den zweiten Start beim Pop-Spektakel und möglicherweise einen Platz sehr weit vorn. Einen charmanten Auftritt legte die Belgierin Laura Tesoro (19) mit ihrer Disco-Nummer „What’s the Pressure“ hin — sie könnte unter den besten zehn Finalisten landen.
Lettlands Sunnyboy Justs (21) setzt auf Elektrobeats, kräftige Stimme und Dreitagebart, die Young Georgian Lolitaz aus Georgien auf Indierock. Geheimfavoritin bei vielen Fans ist die Österreicherin Zoë (19), die als einzige auf Französisch trällert — mit „Loin d’ici“ will sie die 2014-Gewinnerin Conchita Wurst (26) beerben. Serbien, Polen, Israel, Litauen, Tschechien, die Niederlande, Aserbaidschan, Ungarn, Italien, Zypern, Kroatien, Malta, Bulgarien und Armenien dürfen auch mitsingen. Gesetzt sind neben Deutschland und Vorjahressieger Schweden auch Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien.