Aussage des FDP-Chefs in Tagesthemen Lindner irritiert mit Corona-These: „Keine Wirksamkeit“ von Ausgangssperren? Ein Faktencheck

Berlin · FDP-Chef Lindner zufolge soll die Wissenschaft keine Wirksamkeit von Ausgangssperren festgestellt haben. Stimmt das?

Christian Lindner, Bundesvorsitzender der FDP, äußert sich nach den Gremiensitzungen der FDP bei einer Pressekonferenz im Hans-Dietrich-Genscher-Haus. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

Gegen die rasante Ausbreitung des Coronavirus ist Deutschland in der Vergangenheit unter anderem mit Ausgangssperren vorgegangen. Jetzt hat FDP-Chef Christian Lindner die Wirksamkeit dieser Maßnahme in Frage gestellt. Was ist dran?

Behauptung: „Weil diese Maßnahmen nach wissenschaftlichen Untersuchungen keine Wirksamkeit haben, und weil auch deutsche Gerichte solche Ausgangsbeschränkungen ja bereits verworfen haben“, sagte Lindner am Freitag in den „Tagesthemen“ auf die Frage, warum künftig auf Eindämmungsmöglichkeiten wie Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen verzichtet werden solle.

Bewertung: Datenlage zu Ausgangssperren unklar.

Fakten: Dass die Wissenschaft „keine Wirksamkeit“ von Ausgangssperren festgestellt habe, ist übertrieben. Vielmehr ist diese Maßnahme „bisher kaum untersucht worden“, wie es in einer Anfang Oktober veröffentlichten Studie um ein Team der Universität Oxford heißt. Das Thema ist also noch nicht abschließend und tief gehend erforscht.

Auf Nachfrage hatte Lindner eingeschränkt: „Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen zur Wirksamkeit von Ausgangsbeschränkungen zum Beispiel für geimpfte Menschen, die eben nicht das Infektionsgeschehen eindämmen.“

Das Oxford-Team hatte bereits im Frühjahr Pandemieregeln in der zweiten Corona-Welle (Jahreswechsel 2020/2021) untersucht und geschlussfolgert, nächtliche Ausgangsbeschränkungen könnten die Verbreitung des Covid-19-Erregers um rund 13 Prozent reduzieren. Aber schon damals schränkten die Experten ein, dass die Maßnahme nicht leicht vom Effekt paralleler Regelungen wie Kontaktbeschränkungen zu unterscheiden sei. Zudem waren seinerzeit im Gegensatz zu heute kaum Menschen gegen das Virus geimpft, auch wenn der Impfschutz mit der Zeit nachlässt.

Aktuell gehen die Oxforder Wissenschaftler weiterhin von einer Reduzierung um 13 Prozent in der zweiten Welle aus, geben aber zu bedenken, dass Ausgangssperren „wahrscheinlich in Wechselwirkung“ mit anderen Maßnahmen standen. „Eine Ausgangssperre kann beispielsweise weniger wirksam sein, wenn bereits jegliche Treffen verboten sind“, heißt es in der Analyse. Die mit Corona-Themen befasste Göttinger Physikerin Viola Priesemann twitterte am Samstag: „Je nach Umsetzung haben auch Ausgangsbeschränkungen eine Wirksamkeit.“

Ausgangsbeschränkungen waren in der Vergangenheit vor allem vorgesehen, um Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen - etwa private Besuche - zu verhindern. Dass im Freien das Risiko im Gegensatz zu Innenräumen gering ist, ist sein Monaten bekannt. Aerosolforscher zum Beispiel hielten im Frühjahr die Diskussion über Ausgangssperren für „irreführende Kommunikation“.

Nach Ansicht von Wissenschaftlern sind Kontaktbeschränkungen hingegen ein sehr geeignetes Mittel, Infektionen zu unterbinden. Auf dem Höhepunkt der dritten Pandemiewelle im Frühjahr hatten etwa Mobilitätsforscher der TU Berlin und vom Zuse-Institut statt allgemeiner Ausgangssperren eher für das nächtliche Verbot privater Besuche plädiert.

Deutsche Gerichte kippten in der Vergangenheit Ausgangssperren - vor allem, wenn sie als nicht verhältnismäßig erachtet wurden. Zum Beispiel erklärte Anfang Oktober der Verwaltungsgerichtshof in Bayern die Ausgangsbeschränkungen vom Frühjahr 2020 im Freistaat für unzulässig. Auch die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages hatten im April die Maßnahme kritisch bewertet: „Ob sie einer abschließenden verfassungsgerichtlichen Prüfung standhielte, dürfte zweifelhaft sein“, schrieben die Experten.

(dpa)