Serie: Die besten Düsseldorfer Live-Konzerte Computerliebe: Kraftwerks seltenes Heimspiel
Am 13. Juni 1981 spielten die legendären Vorreiter der elektronischen Musik eines ihrer wenigen Konzerte in Düsseldorf.
Düsseldorf. Meine Generation hat den Untergang des Sozialismus und den Kollaps des Kapitalismus miterlebt, doch der Übergang vom analogen ins digitale Zeitalter war sicherlich die größte Revolution, die uns späten Nachkriegskindern widerfahren ist. Meine fortschrittsgläubige Zukunft begann an diesem Abend in der Philipshalle, wo Kraftwerk einen Vorgeschmack auf die kommende Algorithmenwelt gaben.
Seit ihrer Superstarwerdung mit „Autobahn“ (1974), „Radio-Aktivität“ (1975), „Trans Europa Express“ (1977) und „Die Mensch-Maschine“ (1978) hatten die Elektronik-Pioniere nicht mehr in Düsseldorf gespielt. Überhaupt hielt sich die stilbildende und weltweit bedeutendste Formation der Stadt mit Heimspielen vornehm zurück. 1981, anlässlich der Europa-Tournee zum neuen Album „Computerwelt“, war es dann endlich so weit.
Am 13. Juni, exakt zehn Jahre nach dem letzten Auftritt in der Kunsthalle (Zufall oder gewollt - wer weiß das schon bei Mensch-Maschinen?), traten Kraftwerk erstmals in der Philipsschachtel auf. Und zwar in der für die meisten Fans und Forscher einzigen und wahren „Originalbesetzung“, also mit Ralf Hütter, Florian Schneider-Esleben, Karl Bartos und Wolfgang Flür. Doch das Heimspiel auf dem Zenit ihrer gemeinsamen Kreativität war noch nicht mal ausverkauft (der Visionär im eigenen Lande...).
Am Souvenir-Stand gab es für zehn Mark einen silbern eingebundenen Kraftwerk-Casio-Taschenrechner, auf dem ein paar „Computerwelt“-Melodien gespeichert waren und mit dem man auch andere Töne erzeugen konnte. Das beste aller Merchandise-Produkte ever!
„Meine Damen und Herren, Ladys and Gentlemen, heute Abend die Mensch-Maschine: Kraftwerk!“ Der Vorhang fiel, und los ging´s. Das minimalistische Techno-Brett „Nummern“ glitt ins melodische „Computerwelt“ über, und mein Herz dekompensierte. Dann war plötzlich Schluss. Saallicht an. Es hieß, die Computer seien abgestürzt. Abgestürzt, das hörte sich bedrohlich an. Ging nun das Konzert überhaupt weiter oder die Welt unter? Doch Florian sagte geistesgegenwärtig und mit unbesorgter Stimme durchs analoge Mikro: „Wir müssen neu programmieren. Keine Angst, wir sind ja bei euch!“
Die Geräte wurden wieder hochgefahren, das Licht verlosch und nach zehnminütiger Unterbrechung ging das Konzert mit „Computerliebe“ weiter. Computerliebe meinte nicht Internet-Sex, sondern war die konsequente Weiterentwicklung des naturalistischen Mensch-Maschine-Gedankens: Computer interagieren mit- und entwickeln Gefühle füreinander...
Das Bühnenbild bestand quasi aus ihrem Kling-Klang-Studio und erinnerte ein wenig an die Kommandozentrale von Raumschiff Enterprise. Schicke Laptops waren noch nicht mal Zukunftsfantasie. Dafür gab es elektronische Drums Marke Eigenbau (Flür), Keyboards, Synthesizer und klobige Computer-Darsteller. Hinter jedem Musiker befand sich ein riesiger Monitor, auf dem die typischen Videos und Animationen synchron gespielt wurden. Heute verfügt zwar jeder Hartz 4-Empfänger über einen 70-Zoll-Flachbild-TV, doch damals guckte man noch in die Röhre.
Die Dinger waren also eine Sensation. High Tech gab es noch nicht, Faxgeräte, zwei Jahre zuvor von der Bundespost eingeführt, waren der neue, heiße Scheiß in der elektronischen Kommunikationswelt. Es gab noch keine CDs, keine Handys, auch Facebook nicht und Die Toten Hosen waren noch nicht erfunden. Erst ein Jahr nach diesem Konzert trat mit dem Commodore C 64 der erste PC seinen Siegeszug an. Nach zwölf Stücken verließen alle Kraftwerker den Kommandostand und kamen mit ihren Taschenrechnern und mobilen Taktgebern in den Händen an den Bühnenrand und wippten fröhlich zu „Taschenrechner“. Hütter, so nahbar wie nie (mehr danach), hielt sein Zählgerät in die Zuschauerreihen am Bühnenrand. Ein paar Leute durften mal auf die Tasten drücken und dabei ein Geräusch erzeugen, das über die P.A. dröhnte. Quasi digitales Mitgröhlen. Zur Zugabe rotierten natürlich die Roboter, und nach „Heimcomputer“ war dann Schluss mit einer Show, die sich futuristisch gab, aber noch mit den Mitteln der analogen Steinzeit arbeiten musste.
Kraftwerk gingen mit den Worten „Wir sehn uns in der Altstadt“ vom Netz. Ich konnte mir die Klangkosmonauten beim besten Willen nicht mit einem Altbier in der Hand auf der Bolker Straße vorstellen und fuhr mit dem Mini-Casio (leider irgendwann mal weggeschmissen) im metallic-blauen Käfer zurück in die Vergangenheit, meine Heimatstadt Mönchengladbach. Ich wollte kein Fortschrittsfeigling sein. Eine irgendwie rosige Zukunft schien mir damals (mit schlanken 22 Lebensjahren) realistisch. Sie sollte in Düsseldorf stattfinden. Helmut Schmidt regierte die Republik, mein VW verfügte über einen 5-Liter Reservetank, Justin Timberlake und Jan Böhmermann lagen bereits in den Windeln, was sollte also groß schief gehen?
P.S.: Kraftwerk spielten in 43 Jahren und fünf verschiedenen Besetzungen insgesamt 15 Mal in Düsseldorf: Das erste Mal am 2. Weihnachtstag 1970 im sagenumwobenem Altstadt-Künstlerkeller Creamcheese, am 13.6. 1971 in der Kunsthalle, als Mensch-Maschinen zweimal 1981 und am 31.10.1991 in der Philipshalle; vom 11.1. - 20.1.2013 zehn Mal in der Kunstsammlung NRW. Höhepunkt und Abschluss ihrer Heimspiele könnte der 1.7.2017 werden, wo sie zum Grand Départ der Tour de France auftreten sollen.