Kirchen in NRW St. Paulus in Velbert: Ungewöhnliche Architektur verleiht Kirche den Namen „Seelengarage“
Die Sommer-Serie der Westdeutschen Zeitung „Neue Steine des Glaubens“ lädt zur Wiederentdeckung moderner Kirchen, Synagogen und Moscheen ein, die oft zu Unrecht im Schatten mittelalterlicher Dome stehen. Dieser Teil der Serie gilt der Kirche St. Paulus in Velbert.
Velbert. Der Glockenturm ist das Erste, was dem Besucher ins Auge fällt, wenn er auf der vierspurigen Heidestraße nach Velbert hineinfährt. An der Kreuzung erhebt sich majestätisch der mit Schiefer verkleidete Turm und lenkt den Blick auf die katholische Kirche St. Paulus.
Das Gebäude erstreckt sich über 42 Meter in Richtung Osten, wobei das Dach vom Portal aus abfällt. Die ungewöhnliche Architektur brachte der 1955 gebauten Kirche die Spitznamen „Sprungschanze Gottes“ und „Seelengarage“ ein. Das 13 Meter hohe Portal sieht tatsächlich auf den ersten Blick aus wie ein grauer Kasten, in den eine Kirche hineingeschoben wurde.
Erst im Inneren erschließt sich dem Betrachter die Schönheit des Werkes des Kölner Architekten Gottfried Böhm (*1920). Als Sohn von Dominikus Böhm, einem der bedeutendsten Kirchenbaumeister der Zwischenkriegszeit, trat er früh in die Fußstapfen seines Vaters und widmete sich in der Nachkriegszeit dem Kirchenbau. Allein in der Zeit bis 1959 entstanden 39 sakrale Bauten.
In Velbert stehen gleich zwei seiner Kirchen: die katholische Kirche St. Paulus (1954-55) und die Wallfahrtskirche „Maria, Königin des Friedens“ in Neviges, besser bekannt als Mariendom (1966-1968). Letzterer gilt als Böhms Hauptwerk und war wahrscheinlich der Grund dafür, dass ihm 1986 in London der internationale Pritzker-Preis, der sogenannte Nobelpreis für Architektur, verliehen wurde.
In der Kirche St. Paulus tritt man in einen weiten und lichtdurchfluteten Kirchenraum. Für Helligkeit sorgen die beiden großen Frontfenster im Westen, die sich neben dem Portal erheben. Schwerter und Auszüge aus dem 1. Korintherbrief, beides Symbole für den Heiligen Paulus, schmücken die Fenster. Es sind nicht die einzigen: In allen Bereichen der Kirche finden sich Hinweise auf den Heiligen.
Die Decke gestaltete Böhm wie ein Zeltdach, das zum Altar hin abfällt. „Dadurch wird der Blick auf den Altar gelenkt“, sagt Christopher Frieling, Küster in der Gemeinde. Der Altar, der zu allen Seiten offen ist, bildet den Mittelpunkt der Kirche. Böhm griff damit der Einbeziehung der Gemeinde in die Eucharistiefeier vor, die mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) verpflichtend werden sollte.
Über dem Altar liegt die Decke auf längs durch den Kirchenraum gespannten Stahlseilen. Die Konstruktion ist einem Sternenhimmel nachempfunden und verstärkt den Eindruck des Zentrums, in dem alles auf den Altar ausgerichtet ist. Im Zuge des Umbaus wurde auch der Tabernakel, der zuvor hinter dem Altar stand, an die Seite versetzt.
„Die ganze Form der Kirche ist ungewöhnlich“, sagt Frieling. Sie spiegelt die befreiende Aufbruchstimmung der Nachkriegszeit wieder. Dabei nimmt Böhms Entwurf Bezug auf eine Szene aus dem Alten Testament als „Zelt Gottes unter Menschen“. Nach dem Auszug aus Ägypten war das Volk Israel 40 Jahre unterwegs. Die Bundeslade, in der Mose die 10 Gebote hineingelegt hat, wurde in einem Zelt aufbewahrt, in dem man Gott begegnen konnte. „Das Zelt ist ein Symbol dafür, dass es keinen festen Ort gibt, sondern Gott immer mitzieht“, so Frieling.
Auf den ersten Blick hat das Innere von St. Paulus fast schon etwas Nüchternes und Protestantisches. Die schnörkellosen Holzbänke sind symmetrisch aufgereiht. An den weiß getünchten Wänden hängt kein Bild, das die Aufmerksamkeit ablenken könnte. Auf den zweiten Blick offenbart sich aber der Kreuzweg, der reliefartig in die linke Wand eingearbeitet wurde. Detailreich wird der Leidensweg von Jesus dargestellt, so dass sich der Betrachter in den Bildnissen des ausgemergelten Mannes verliert. Jede einzelne Rippe, jedes Loch in Händen und Füßen ist herausgearbeitet; man versucht auch, sein Abbild auf Veronikas Schweißtuch zu erkennen.
Auch rund um den Altar sind zahlreiche Zeichen des Glaubens zu finden. „Man muss näher rangehen und sich damit beschäftigen, dann erschließt sich die große Symbolik“, sagt der Küster Frieling. Auf einer großflächig gestalteten Altarrückwand (6 mal 10 Meter) erscheint Jesus der Mittelpunkt des Lebensbaums. Um ihn herum gestaltete Böhm Szenen aus dem Alten und Neuen Testament, unter anderem die Vertreibung aus dem Paradies, der Turmbau zu Babel und die Arche Noah. Auch die Geburt Jesu im Stall von Bethlehem, seine Auferstehung und sein Erscheinen vor Maria Magdalena am Grab sind zu sehen.
Ein Tonnengewölbe mit Glasfenstern bildet im Bereich des Chors das Querschiff — eine ungewöhnliche Konstruktion in den fünfziger Jahren, die von außen eher an eine Industriehalle als an eine Kirche erinnert. Die riesigen Kirchenfenster hat der Architekt Böhm selbst entworfen. Christliche Symbole wie die Rose als Mariensymbol oder der Fisch als Erkennungszeichen der Christen zieren die bodentiefen Fenster. Das Glas in dunklen Grün- und Blautönen mit gelben und roten Einsprengseln bringen — wenn auch nur indirekt — Farbe in den Raum. „Wenn man zur richtigen Jahreszeit hier ist, wird der Raum von buntem Glasfensterlicht geflutet“, schwärmt Frieling.
„St. Paulus ist eine der schönsten und stimmigsten Kirchen im Gemeindeverbund“, sagt Frieling. Die Kirche habe trotz des Umbaus im Jahr 2004 ihre ursprüngliche Einheit nicht verloren. Vielleicht liege es daran, dass sie besonders beliebt für Tauffeiern und Hochzeiten ist. Der Raum lädt zum Verweilen, zum Betrachten oder zur Andacht ein. Die Ruhe der Kirche St. Paulus hallt immer noch nach, wenn man aus dem Gebäude tritt — und plötzlich wieder an der vierspurigen Stadtautobahn steht, die im Inneren des sakralen Ortes ganz in Vergessenheit geraten war.