Bundestagswahl Außenpolitik: Werte oder Interessen vertreten?
Die Einbindung der Bürger in die Außenpolitk wird wichtiger, um Akzeptanz für Entscheidungen zu schaffen, die politische Balanceakte sein werden.
Berlin. Als im Sommer 2016 mehr als 30 000 Nato-Soldaten bei zwei Manövern in Polen, Litauen, Estland und Lettland das Zurückschlagen eines „bothnischen“ Angriffs übten, wusste jeder, wer gemeint war. Aber die im Nato-Szenario Angegriffenen verfolgten nicht alle die gleichen Interessen. Der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), heute Bundespräsident, verärgerte die östlichen Nato-Partner mit der Bemerkung: „Wer glaubt, mit symbolischen Panzerparaden an der Ostgrenze des Bündnisses mehr Sicherheit zu schaffen, der irrt.“ Steinmeier sprach im Zusammenhang mit den Nato-Manövern „Anakonda“ und „Saber Strike“ gar von „Säbelrasseln und Kriegsgeheul“.
„Bothnia“ ist seit Jahren der fiktive Gegner, wenn die Nato die Verteidigung ihrer Grenzen trainiert. Der aggressive Schurken-Staat grenzt an mehrere Länder des Bündnisses. Das Land ist lediglich eine Scheindemokratie, eine nie wirklich reformierte so genannte Volksrepublik mit Zugang zur Ostsee. Es verfügt über erhebliche militärische Mittel und eine politische Führung, die jederzeit bereit ist, ihre Ziele militärisch durchzusetzen.
Wenn Steinmeiers Nachfolger, Außenminister Sigmar Gabriel (SPD), sich heute mit SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz zu Militärfragen äußert, geht es neuerdings meist wieder um Abrüstung (des Westens) und die Ablehnung, Deutschlands Verteidigungsausgaben im Rahmen der Nato-Verpflichtungen deutlich zu erhöhen. Geht so der militärische Teil der Außenpolitik, die Deutschland in den kommenden Jahren braucht? Haben die Parteien — völlig unabhängig ihrer Wahlprogramme — überhaupt die Option zu entscheiden, welche Außenpolitik sie wollen?
In „Bothnia“ klopft man sich angesichts der sozialdemokratischen Friedensfreunde jedenfalls lachend auf die Schenkel. Ähnlich viel Freude dürfte auch der FDP-Vorsitzenden Christian Lindner mit seiner Vorstellung ausgelöst haben, die Anerkenntnis einer russisch besetzen Krim als „dauerhaftes Provisorium“ gebe Wladimir Putin die Möglichkeit, seine Politik zu ändern. Denn im wirklichen „Bothnia“ verfrachtet die russische Armee derweil im großen Stil Menschen und Material nach Weißrussland, um unmittelbar an der Grenze zu Litauen vom 14. bis zum 20. September das Manöver „Zapad 17“ (deutsch: Westen 17) durchzuführen. Nato-Quellen gehen von bis zu 100 000 beteiligten Soldaten aus, Russland selbst spricht von lediglich 10 000 Mann.
Im lettischen Fernsehen erklärte Außenminister Edgars Rinkçviès, Lettland solle sich auf „mögliche Provokationen“ Russlands während des Manövers vorbereiten, die vielleicht „wie zufällige Ereignisse“ aussähen, aber sich schnell zu einer vollständigen Krisensituation auswachsen könnten. Käme es so, stünde die Bundeswehr an vorderster Front: Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der fortgesetzte Destabilisierung der Ukraine hat die Nato seit Januar als „Enhanced Forward Presence“ in Lettland, Litauen, Estland und in Polen vier multinationale Bataillon von jeweils rund 1000 Mann stationiert. Die so genannte „Battlegroup“ in Lettland wird derzeit vom Panzergrenadierbataillon 371 aus dem sächsischen Marienberg angeführt.
Die FAZ zitierte den Oberkommandierenden der US-Streitkräfte in Europa, Generalleutnant Ben Hodges, zu „Zapad 17“ mit der Warnung, Russland habe auch 2008 in Georgien und 2014 in der Ukraine im Schatten großer Manöver erobernde Vorstöße unternommen; die Russen, das lehre ihre Geschichte, hielten sich nicht an Verträge. Die FAZ war so höflich nicht nachzufragen, auf welche Aussagen der USA sich denn deren Verbündete seit der Wahl Donald Trumps noch verlassen können. Viel wahrscheinlicher als Hodges‘ militärisch beschränkter Blick durch den Feldstecher, dass Lettland und die Nato eine russische „Überraschung“ fürchten, aber Weißrussland sie erlebt: Putin könnte nach dem Manöver einen Teil seiner Truppen — natürlich nur, wenn er darum gebeten wird — in Weißrussland zurücklassen. Dies hielte den Druck auf die baltischen Staaten aufrecht und baute zugleich einem weißrussischen Maidan vor, falls das Regime von Diktator Alexander Lukaschenko zerbröseln sollte.
In dieser Gemengelage sind Nato- nicht gleich Nato-Interessen: Die östlichen Bündnis-Mitglieder würden sich gern bis an die Zähne bewaffnen, als ließe sich das russische Wunschdenken von der Wiederherstellung der früheren sowjetischen Einflusssphäre tatsächlich mit Waffengewalt bekämpfen. Verweigerten sich die USA unter Barack Obama lediglich einer konstanten Übernahme von Führungsverantwortung für die freie Welt, so muss der Westen nun jederzeit damit rechnen, sich gegen amerikanische Egoismen zur Wehr setzen zu müssen. Mit dem Brexit bricht ein weiterer gewichtiger Stein aus der europäischen Verteidigungsstrategie, das Nato-Land Türkei hat die Wertegemeinschaft des Bündnisses längst verlassen. Bestenfalls entstehen aus diesen Herausforderungen Impulse für eine europäische Verteidigungsintegration mit Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland im Kern.
Fest steht: Der Handlungsraum deutscher Außenpolitik wird sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU auf Sicht mindestens eines Jahrzehnts instabil und krisenhaft bleiben. Das ist nicht neu. Russland und Asien bleiben dauerhafte Gefahrenherde und Unsicherheitsfaktoren, die USA werden (unabhängig der Amtszeit Trumps) immer deutlicher zum Risikofaktor für Deutschland und Europa. Die Deutsche Gesellschaft für Außenpolitik (DGAP), ein eher konservativer Think-Tank, beschreibt die Ausgangslage für die nächste Bundesregierung so: „Deutschland hat mit dem Wandel der europäischen und globalen Ordnung zu kämpfen. Beide pendeln von der Stärke des Rechts durch Institutionen hin zum Recht des Stärkeren, wo militärische und ökonomische Macht bedeutsam sind.“
Daraus folge, dass die Außenpolitik der nächsten Bundesregierung auf drei Säulen stehen müsse: Deutschland müsse klar die EU als Akteur durch den Ausbau der politischen Einheit erhalten und stärken. Säule zwei müsse die Institutionalisierung auf globaler Ebene (Handel) und regionaler Ebene (Sicherheit) erhalten und ausbauen. Dort, Institutionen nicht vorhanden sind und die Institutionalisierung von Konfliktlösungen wenig aussichtsreich erscheine, müsse Deutschland zur Wahrung seiner Interessen Einfluss- und Machtoptionen als dritte Säule durch neue Partnerschaften ausbauen.
Bereits 2012 hatten der German Marshall Fund (GMF) und die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) rund 50 außen- und sicherheitspolitische Expertinnen und Experten aus Bundestag, Verwaltung, Wissenschaft, Wirtschaft, Stiftungen, Denkfabriken, Medien und Nichtregierungsorganisationen versammelt, um ein Jahr lang in Konferenzen und Workshops die zentralen Herausforderungen für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik der kommenden Jahre zu diskutieren. Im Abschlusspapier des Projekts heißt es, deutsche Außenpolitik werde sich weiterhin der gesamten Palette der außenpolitischen Instrumente bedienen — von der Diplomatie über die Entwicklungs- und Kulturpolitik bis hin zum Einsatz militärischer Gewalt.
Analog zum Drei-Säulen-Modell des DGAP-Papiers — Europa, Institutionalisierung, Partnerschaften — unterteilten die GMF/SWP-Experten die Mitspieler Deutschlands auf dem internationalen Parkett in „Mitstreiter“, „Herausforderer“ und „Störer“ (siehe Grafik) beim eigentlichen Sinn und Zweck deutscher Außenpolitik: „Das überragende strategische Ziel Deutschlands ist der Erhalt einer freien, friedlichen und offenen Weltordnung.“ Aus dem Umstand, mit Herausforderern (zu denen 2012 die Türkei noch nicht gehörte) Vereinbarungen treffen und mit Störern zumindest sprechen zu müssen, folge keineswegs, dass sich Deutschland zwischen seinen Werten und seinen Interessen entscheiden müsse: „Richtig ist, dass Zielkonflikte zwischen deutschen Werten und Interessen, gerade im Verkehr mit autoritären Staaten, kurzfristig oft unvermeidbar sind und im konkreten Einzelfall ausbalanciert werden müssen. In der langfristigen Perspektive aber ist Werteorientierung für eine westliche Demokratie ein existenzielles Interesse.“
Verflechtung und gegenseitige Abhängigkeit erforderten aber auch neue Ansätze auf innerstaatlicher Ebene: engere Vernetzung unter den Ressorts, aktivere Zusammenarbeit zwischen Exekutive, Legislative und wissenschaftlichen Institutionen, effektivere politische Kontrolle und „engagiertere Kommunikation mit der deutschen Öffentlichkeit“. Deutsche Außenpolitik werde „heute von der Zivilgesellschaft (daheim und anderswo) nicht nur beobachtet und kommentiert wie nie zuvor, sondern sogar mitgestaltet.
Staatliche Außenpolitik muss deshalb lernen, ihre Ziele und Anliegen effektiver zu kommunizieren, um zu überzeugen — die eigenen Bürger ebenso wie die internationale Öffentlichkeit.“
Zum gleichen Ergebnis kam auch die DGAP: Da deutsche Außenpolitik nun einmal für Deutschland gemacht werde, müsse sie „die Interessen Deutschlands vertreten und deshalb die Bevölkerung von der Richtigkeit des Vorgehens überzeugen. Deshalb muss die Bundesregierung die Zivilgesellschaft viel früher in die außenpolitische Willensbildung einbinden und über die Mechanismen von Außenpolitik informieren.“ Einen vielsprechenden Versuch dazu hatte Frank-Walter Steinmeier als Außenminister mit dem Projekt „Review 2014 — Außenpolitik Weiter Denken“ angestoßen, als das Auswärtige Amt erstmals mit einer Vielzahl von Diskussions- und Info-Veranstaltungen in die Öffentlichkeit ging; wahrnehmbar fortgeführt wurde es nicht.