Chloe Kim - Wunderkind in der Halfpipe
Pyeongchang. Oben am Hang umarmt Chloe Kim alle, ehe sie ihr Board quer zum Hang des Phönix Snow Parks in den Schnee rammt, losfährt — und abrockt. In der olympischen Halfpipe, die daliegt wie eine aufgeschnittene Schneeröhre.
Ihr Frontside 1080 ist gut, der McTwist phänomenal. Die Reihe ihrer Supersprünge ist beliebig fortsetzbar. Der vermasselte zweite Lauf nervt sie, aber mit 98,25 Punkten gelingen der US-Amerikanerin dennoch die beiden besten — nah dran an der Perfektion, die bei 100 Zählern liegt. Sie gewinnt mit großem Abstand vor der Chinesin Liu Jiayu und ihrer Landsfrau Arielle Gold. Wie erwartet. Dieser Auftritt bringt nicht nur eine olympische Goldmedaille. Er ist eine Aussage.
Aber: Chloe Kim weiß nicht wirklich, was passiert. „Ich fühle mich gerade etwas ängstlich, ich bin ein wenig überfordert“, sagt sie. Schon zwischen den Läufen lenkt sich Kim ab. Mit Arbeit für die sozialen Medien. Sie registriert, wie schnell ihr Sport Fortschritte macht. Wie viele „coole Sachen“ sie in der Halfpipe sieht. Überrascht ist die junge Frau. Über die vielen Menschen, die hier heraufgekommen sind, um zuzuschauen. „Das ist so aufregend zu sehen, dass Snowboard für Frauen etwas ist, was die Leute sehen wolle“, meint Chloe Kim.
Was sie nicht sagt: Sie ist die Attraktion. Hauptsächlich wegen ihr sind die Leute früh aufgestanden und mit den Bussen hergekommen. Doch erst in der Zeitlupe entfaltet sich für viele von ihnen die vollkommene Schönheit von Kims Sport, vor allem aber ihre Klasse. Weil das bloße Auge aus der Entfernung nur unzureichend die Kunst en detail erfasst: Sie springt höher hinaus, sie dreht sich häufiger, sie performt schöner als alle anderen. Bei Chloe Kim fliegen nicht nur die langen blonden Haare frech mit, diese aufgeweckte Persönlichkeit ist ein einziger Wirbelwind, wie sie — wieder sicher auf der Erde gelandet — mit der US-Flagge um die Schultern umherhüpft. Der schwarze Helm fliegt in den Schnee, als die Bestnoten aufleuchten. Das Board ist für sie kein angeschnalltes Hindernis, sondern eine Hilfe zum Fliegen.
Viel hat Chloe Kim schon über Olympische Spiele gehört, aber nun endlich ein Teil davon zu sein, das ist eine ganz andere Geschichte. Rein sportlich hätte das Wunderkind schon in Sotschi vor vier Jahren dabei sein müssen, die Qualifikationskriterien jedenfalls schafft sie. Nützt aber nichts, Fräulein Kim ist zu jung. Jetzt, mit 17, darf sie endlich dabei sein in der olympischen Familie. „Sie erinnert mich an mich“, sagt die Snowboard-Legende Shaun White über die viermalige Siegerin der Winter-X-Games. Wie er ist Kim eine Pionierin: Sie ist die erste Frau, die zwei 1080s am Stück gestanden hat. Damals ist sie zarte 15.
In der Schweiz lernt das Mädchen koreanischer Einwanderer Snowboarden. Mit acht schicken ihre Eltern sie für zwei Jahre nach Genf. „Sie dachten, es sei gut für meine Entwicklung, in Übersee zu leben“, sagt sie im Magazin „Sports Illustrated“, „oder sie hatten einfach genug von mir. Ich bin mir bis heute nicht sicher, was von beidem.“
Das Snowboarden schenkt ihr Anerkennung der Mitschüler, um sich zu integrieren spielt sie mit ihnen Fußball. Ihr Talent ist unterentwickelt, daher steht sie im Tor. Doch auch mit Schnee fängt Chloe Kim nicht gar zu viel an, sie ist im Süden Kaliforniens aufgewachsen und sagt: „Ich hasse es, zu frieren.“ In Pyeongchang tanzt sie sich warm. Mit Fahne.