Schwimm-Olympiasieger Michael Groß im Interview „Der DOSB ist gescheitert“

Paris · Der dreimalige Schwimm-Olympiasieger hat nach Paris eine radikale Trendumkehr im deutschen Spitzensport gefordert.

„Der DOSB ist gescheitert“ - Michael Groß im Interview
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Der dreimalige Olympiasieger Michael Groß hat nach den Olympischen Spielen in Paris eine radikale Trendumkehr im deutschen Spitzensport gefordert. Paris 2024 habe gezeigt: „Der DOSB ist gescheitert.“ Groß, eine lebende Legende des deutschen Spitzensports, 1984 in Los Angeles gewann der „Albatros“ Olympisches Gold über 200 Meter Freistil, 100 Meter Schmetterling und vier Jahre später in Seoul Gold über 200 Meter Schmetterling, fordert nach Olympia eine völlige Herauslösung des deutschen Spitzensports aus dem DOSB, eine neue Organisation, weil „sonst jede Ambition utopisch ist, wieder eine erfolgreiche Sportnation zu werden und in die Top Fünf des Weltsports zurückzukehren“. Michael Groß im Exklusiv-Interview über die deutsche Sportbürokratie, die Notwendigkeit der Wiederbelebung der deutschen Sporttradition und das Ende der Flucht vor der Realität.

Michael Groß, Paris erlebte eindrucksvolle und nachhaltige Olympische Spiele, gewaltige Resonanz in der Bevölkerung, Begeisterung in den Stadien und auf den Straßen der Metropole. Nachvollziehbar für Sie?

Michael Groß: Absolut. Beach-Volleyball vor dem Eiffelturm, Fechten im Grand Palais, Reiten im Schlossgarten von Versailles, Triathlon auf den Champs Elysees, Trendsportarten am Place de la Concorde, Schwimm-Wettbewerbe vor 17.000 Zuschauern in La Defense, wirklich großartig, beeindruckend, Bilder, die man nicht mehr erleben wird. Olympisch im besten Sinne, mich hat das sehr angesprochen, begeistert.

Die Bundesregierung will Olympia in Deutschland, die Bundesinnenministerin hält Vieles von Paris für übertragbar auf Deutschland.

Groß: Das wird man sehen. Es ist auf jeden Fall richtig, sich um Olympia zu bewerben. Ich bin aber überzeugt, dass nur Berlin unsere Bewerberstadt sein kann. Olympia geht nur in Weltmetropolen wie zuletzt London, Rio, Tokio und Paris. Zustimmung zu Olympia kann man allerdings nicht vom DOSB verordnen, Olympia muss von Bürgerinnen und Bürgern gewollt sein. Das braucht Zeit, um das Bewusstsein zu entwickeln und eine breite Zustimmung zu erhalten. Deshalb ist 2040, wie von der Regierung vorgesehen, ein vernünftiges Datum.

Wie beurteilen Sie den Stellenwert des Sports in Deutschland?

Groß: Unabhängig von einzelnen fantastischen Leistungen im deutschen Team zeigen die Resultate in Paris nüchtern betrachtet: Wir sind keine Sportnation mehr. In Deutschland leben fünfmal mehr Menschen als in den Niederlanden, in der Anzahl der Medaillen liegen beide Länder gleichauf. Ich habe zuletzt zahlreiche Grundschulen besucht. Begeisterung für den Sport, glänzende Augen der Kinder, ausnahmslos, aber 50 Prozent der Grundschüler können nicht schwimmen, eine Rolle vorwärts können sie auch nicht. Alarmierend. Wir brauchen einen Innovationsschub, eine radikale Trendumkehr, falls wir unsere große Sporttradition wiederbeleben wollen.

Kann das die deutsche Sportorganisation schaffen?

Groß: Im Spitzensport ist der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) gescheitert, die Organisation hat die falsche Struktur. Und das ist keine neue Erkenntnis. Wir haben den Deutschen Sportbund und das Nationale Olympische Komitee fusioniert, nicht, weil es fachlich notwendig war, sondern weil Thomas Bach in Deutschland nur eine Sportorganisation wollte. Und nicht zwei. Sonst wäre er nicht Präsident geworden. Das war 2005 eine politische Entscheidung, nichts anderes.

Sind aus dieser Fehlentscheidung Konsequenzen gezogen worden?

Groß: Nein. Zehn Jahre nach der Fusion war das Problem der falschen Struktur bereits offensichtlich, die Ergebnisse bei Olympia wurden immer schlechter. Eine Leistungssportreform wurde angestrebt, das Bundesinnenministerium hatte sich in einem Beratungsgremium unabhängige Expertise ins Boot geholt. Dort haben wir deutlich gemacht, dass ohne grundsätzliche Änderungen an der Struktur eine Trendumkehr unrealistisch ist. Der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière forderte zudem mehr Transparenz und Erfolgsorientierung, wenn mehr Geld des Staates in den Sport investiert werden sollte. Und der DOSB zog das Potenzialanalysesystem, kurz Potas, aus der Tasche, um die Aussichten einzelner Sportarten zu vergleichen und das BMI zu besänftigen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Ein total bürokratisches System ergänzte eine nicht funktionierende Struktur. Eine Flucht vor der Realität, das haben wir damals schon gesagt.

Wie drückte sich die Flucht vor den Realitäten aus?

Groß: Spannend. Basketball wurde als aussichtslos bewertet, ist aktuell eine Erfolgssportart, für die Leichtathletik wurden glänzende Aussichten ausgerechnet, das Gegenteil ist leider der Fall. Das deutsche System im Spitzensport und die Sportbürokratie ist hochgradig dysfunktional. Nur eine Zahl zur wichtigsten Währung bei Olympia: In Athen 2004, vor Gründung des DOSB, hat die deutsche Mannschaft in 301 Wettbewerben 49 Medaillen gewonnen. Das heißt, in gut 16 Prozent der Wettkämpfe stand Deutschland auf dem Podest. In Paris würden 27 Medaillen in 329 Wettbewerben bedeuten: 50 Prozent weniger Podestplätze! Und viele Medaillen kommen zudem aus Sportarten, mit denen der DOSB wenig bis gar nichts zu tun hat, wie dem Reiten mit viermal Gold.

Was ist zu tun? Was kann die Konsequenz sein?

Groß: Es gibt nur eine Konsequenz, der Spitzensport mit dem Olympischen Komitee muss endlich aus dem DOSB herausgelöst und komplett neu aufgesetzt werden. Sonst ist jede Ambition utopisch, wieder eine erfolgreiche Sportnation zu werden, die bei Olympia mit den Top Fünf mithalten kann. Der Spitzensport braucht schnelle Entscheidungen und hohe Flexibilität, passend zu den Bedürfnissen jeder Sportart. In dieser neuen Organisation reichen für die Steuerung des deutschen Spitzensports 30 bis 40 qualifizierte Mitarbeiter aus, plus Projektleute für Olympia. Denn die wesentliche Arbeit muss in den Spitzensportverbänden erfolgen. Diese müssen in ihrem Ehrgeiz ergebnisorientiert gefordert und individuell gefördert werden. Bis zum Winterolympia in Mailand 2026 kann eine solche Organisation aufgebaut werden, wenn kompetente Personen am Start sind und ein klares Mandat bekommen. Dann könnte ein Traum wahr werden: Olympia 2040 in Berlin und Deutschland ist wieder unter den Top Fünf des Weltsports.