Rios Herz und die Angst, was kommt

Rio de Janeiro (dpa) - Die Athleten tanzen, ein Armamputierter spielt mit den Füßen Gitarre. Es regnet in Strömen im Maracanã, doch tausende Sportler mit Behinderung feiern auch sich selbst. Immer wieder formen sie mit den Händen ein Herz und halten es in die Kameras.

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„Das waren exzellente Spiele“, meint der Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees, Philip Craven. „Spiele der Menschen“. Das Stadion wird zur Tanzarena. Rio hat es geschafft. Als um 22.21 Uhr die Flamme erlischt, sind nach 17 Tagen Olympia auch 12 Tage Paralympics Geschichte. Man sieht sich wieder in Tokyo 2020. Feuerwerk, Konfetti, die Leute singen nach dem Ende einfach weiter.

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Während Olympia mitunter für Frust sorgte - angefangen von Mängeln im Olympischen Dorf über leere Stadien bis zu Schüssen auf ein Pressezentrum - überraschten die Paralympischen Spiele alle. Von erst nur 300 000 verkauften Tickets kletterte der Verkauf auf über zwei Millionen. Auch weil viele Familien dank Ticketpreisen ab drei Euro diese stimmungsvollen Paralympics für sich entdeckten. Doch Rio fürchtet bereits die Zeit danach. Wie sieht die Bilanz aus?

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Der Olympiapark im Stadtteil Barra war das Herz der Spiele, aber die Wege für viele nervtötend, Barra liegt fast 40 Kilometer vom Zentrum entfernt. Eine Hamburger Delegation verwies zähneknirschend auf das kompakte Bewerbungskonzept mit kurzen Wegen auf einer Elbinsel für Hamburg 2024 - aber das Volk erteilte der Bewerbung ja eine Absage.

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Die Paralympics lebten vom Herz der Menschen, keine Schmähgesänge der Brasilianer gegen die Argentinier und andersherum wie bei Olympia (bis hin zu einer Schlägerei im Tennisstadion). Die Sportler mit Behinderung wurden frenetisch angefeuert, Goalballer, die sonst vor hundert Zuschauern spielten, wurden von 12 000 Leuten angefeuert. Ein Grund dafür: Die deutlich niedrigeren Ticketpreise als bei Olympia.

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Staunen über High-Tech-Prothesen - und wie schnell Menschen mit einem Bein Rad fahren können. Tausende Volunteers in gelben und grünen Shirts bügelten mit ihrer Herzlichkeit so manche organisatorische Schwäche aus. „Ihr seid das Beste, was Brasilien zu bieten hat“, lobt Craven die Helfer. Auch die Schlangen an den Stadien waren schneller bewältigt, aus Fehlern bei Olympia wurde gelernt - es gab viel Lob.

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Für einen Schock sorgte aber der Tod des iranischen Radrennfahrers Bahman Golbarnezhad, der nach einem schweren Sturz starb, für ihn gab es bei der Feier eine Gedenkminute. Schon bei Olympia hatte es einen tragischen Todesfall gegeben: Der deutsche Kanu-Trainer Stefan Henze starb nach einem Unfall seines Taxis an schweren Kopfverletzungen.

Ärger handelte sich IOC-Präsident Thomas Bach ein, der entgegen der Gepflogenheiten nicht zu den Paralympics kam. Er ließ aber heftig dementieren, dass das irgendetwas mit dem Schwarzmarkt-Skandal um das irische IOC-Mitglied Patrick Hickey bei Olympia zu tun haben könnte, der Brasilien vorerst nicht verlassen darf. Die Polizei fragt sich, warum nach einem in Medien veröffentlichten Emailwechsel zwischen Bach und Hickey der Ire mehr Tickets für olympische Top-Events bekam, als geplant. Die sollen dann zu Wucherpreisen angeboten worden seien.

Unterm Strich: Rio 2016 war besser als der Ruf im Vorfeld. „Ich dachte, man kommt in eine Stadt von Mord, Totschlag und Zika“, erzählte ein Diplomat. Klar: Rio ist vielerorts gefährlich, aber die meisten Touristen bekamen das kaum mit, das Sicherheitskonzept griff. In Sachen Zika wurde den Organisatoren im Ausland von vielen nicht geglaubt - die Moskitos, die Zika übertragen, sind in der Zeit kaum aktiv. Es wurde kein Zika-Fall bekannt. Insgesamt kamen statt der erhofften Million so nur 410 000 ausländische Touristen zu Olympia.

Der Kreditversicherer Euler Hermes rechnet für Rio mit rund zwölf Prozent mehr Pleiten bei Kleinunternehmen, weil sich viele Hoffnungen von zu Olympia gegründeten Unternehmen in den Bereichen Gastronomie, Transport, Tourismus und Kommunikation kaum erfüllt hätten.

Abseits von Olympia und Paralympics ging zudem die Gewalt in Favelas weiter, sie ist gestiegen. Während insgesamt rund 85 000 Polizisten und Soldaten mit der Sicherung der Spiele beschäftigt waren, flammten Kämpfe um die Vorherrschaft zwischen Drogengangs auf, es gab mehrere Tote. Ein Vorbote? In Rio fürchten die Menschen zusammengefasst: mehr Gewalt in den Favelas, mehr Überfälle wegen Sparzwängen bei der Polizei, noch mehr Engpässe in Krankenhäusern und Bildungsnotstand.

Nur mit Notkrediten konnten Olympische und Paralympische Spiele gesichert werden. Der Bundesstaat Rio de Janeiro, der traditionell stark abhängig ist vom Erdölexport, ist fast pleite. Die Agentur Fitch hat ihr Rating für den Bundesstaat auf die absolute Ramschstufe „C“ gesenkt - das heißt: hohes Ausfallrisiko, drohender Bankrott.

Rio 2016 war der Versuch, mit weniger Geld und Prunk (10,3 Milliarden Euro Gesamtkosten, zu fast 60 Prozent privat finanziert) Spiele zu organisieren. Letztlich muss sich das IOC entscheiden, was es will: perfekte Scheinwelten oder bescheidenere Spiele - Rios Kapital sind eher die Musik und Menschen. Das positive Erbe: Der Olympiapark soll zum großen Schul- und Leistungssportzentrum umgebaut werden, bisher fehlen professionelle Strukturen, auch für den Behindertensport. Und rund zwei Drittel der Bürger sind durch neue Metro- und Buslinien nun an den Nahverkehr angeschlossen - die über 2,5 Milliarden Euro teure Metrolinie Richtung Olympiapark nutzt vor allem den besser betuchten Bürgern. Barra ist geprägt von der weißen Mittel- und Oberschicht.

Der weit ärmere Norden hat von Olympia hingegen praktisch nichts. Die Menschen, die hier in riesigen Favelas leben, fürchten ein Anziehen der Gewaltspirale, gerade wenn Rio aus dem Weltfokus verschwindet. Fünf Kilometer vom Leichtathletikstadion ist eine der größten, der Complexo Alemão. Hier wird seit Wochen so viel geschossen, dass die Kinder sich kaum zur Schule trauen und im Unterricht Schüsse hören.