1:7-Pleite weiter präsent Brasilien vor emotionalem Test gegen DFB-Auswahl

Berlin (dpa) - Der Schmerz über den schlimmsten Moment in Brasiliens Fußball-Geschichte sitzt noch immer tief. Nationaltrainer Tite wird in diesen Tagen oft auf ihn angesprochen, diesen Schmerz, den er eigentlich am liebsten vergessen würde.

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Er kann es aber nicht.

Die 1:7-Schmach gegen Deutschland im WM-Halbfinale 2014 sei „ein Gespenst“, sagte der 56-Jährige im Interview dem „kicker“. Es scheint ihn und seine Spieler zu verfolgen, speziell vor dem emotionalen Test gegen die DFB-Auswahl am Dienstag in Berlin. Die Bedeutung dieses Spiels ist nicht nur für die Seleção enorm, sondern auch für Millionen von Brasilianern in der Heimat.

Die psychologische Wucht des 1:7 ist in den Köpfen. Wer in Brasilien als Deutscher erkannt wird, wird schnell auf die Blamage im Sommer 2014 angesprochen. 8. Juli 2014, Belo Horizonte, 18.50 Uhr Ortszeit - der Schlusspfiff: „Eine unvergleichliche Folter“, wie die Sportzeitung „Lance“ damals schreibt, ist zu Ende. Anschließend wird ein eigener Wikipedia-Eintrag für diese denkwürdige Partie angelegt, die auch einen Spitznamen bekommt: „Mineiraço“ steht in Anlehnung an den damaligen Spielort, das Mineirão-Stadion, für die größte Demütigung in der langen Geschichte des brasilianischen Fußballs.

Tite wusste natürlich, dass die Fragen zu der historischen Pleite jetzt wieder aufkommen würden, obwohl er damals gar nicht dabei war. Am liebsten würde er auch gar nicht mehr darüber sprechen, weil er längst Größeres im Blick hat. „Deutschland war damals besser, das akzeptieren wir, aber jetzt ist eine andere Zeit“, sagte er. Seit er die Seleção im Sommer 2016 von seinem glücklosen Vorgänger Carlos Dunga übernommen hat, haben sich nicht nur die Ergebnisse deutlich verbessert. Auch der Spielstil hat sich verändert. Den Erfolg dieses Veränderungsprozesses will er nicht auf ein Spiel in Berlin reduziert sehen.

Seine vielleicht bisher größte Leistung ist es, die Abhängigkeit von Superstar Neymar zu verringern. Anstatt in Berlin zu weilen, fällt der 26-Jährige derzeit mit Fotos am Pokertisch oder in seinem aktuellen Gefährt, einem Rollstuhl, auf. Der Angreifer von Paris Saint-Germain kuriert in seinem Luxusanwesen in der Nähe von Rio de Janeiro eine Fußverletzung aus und erweckt auf seinen Fotos den Eindruck, dass er sich dort bestens erholt.

Natürlich hätte Tite den herausragenden Stürmer auch gerne bei der WM in Russland dabei. Aber er ist dafür vorbereitet, dass Neymar das Turnier im schlimmsten Fall sogar verpassen könnte. „Wir müssen die Stärke haben, Widrigkeiten wie diese zu überwinden“, sagt er. Die Seleção macht Tites Kollektivdenken nur schwer berechenbar. Anstatt auf die individuellen Fähigkeiten Einzelner, setzt Tite das größte Vertrauen in sein System. „Auch bei Ballbesitz gibt die Mannschaft die Kompaktheit selten preis“, sagte Ex-Bundesliga-Profi Zé Roberto. Das wird auch bei der DFB-Auswahl registriert. „Ich finde Brasilien heute zwei Klassen besser als 2014“, sagte Weltmeister Toni Kroos.

Zahlreiche Spieler haben sich seit der 1:7-Schmach weiterentwickelt. Tite verteilt die Verantwortung unter ihnen, jeder hat in seinem laufintensiven System klare Aufgaben. Beim lockeren 3:0-Erfolg bei WM-Gastgeber Russland am Freitag erzielten Abwehrspieler Miranda und die Aufbauspieler Philippe Coutinho und Paulinho die Treffer. Das spielstarke Duo des FC Barcelona bildet das Zentrum in Brasiliens Spiel. Sollten sie auch in Berlin zur Entfaltung kommen, könnte die Seleção das „Gespenst“ zumindest für einen Abend vergessen machen. „Coutinho ist auf einem Level wie Neymar“, lobte Brasiliens Kapitän Dani Alves. „Es ist großartig, mit solchen Spielern im Team zu sein.“