Fußball-Kultur Auswärtsfahrt: Übers Land

Das waren noch Zeiten, als man im klapprigen Bus zu Auswärtsspielen fuhr. In der neuen Ausgabe von 11FREUNDE erinnert sich Chefredakteur Philipp Köster an Einpeitscher, Nachwuchshooligans und alkoholisierte Fahrer.

Bielefeld. Udo Lattek war in der Regel vor mir da. Der Mann, der dem erfolgreichsten Vereinstrainer der Welt verblüffend ähnlich sah, schob dann stets sein Fahrrad auf den Parkplatz hinter dem Stadion, lehnte es bedächtig gegen eine Laterne und suchte in seinen Taschen nach dem Schlüssel, um es abzuschließen. Die Suche zog sich quälend in die Länge. Udo schwankte nämlich leicht und fand die Manteltaschen erst beim zweiten Griff. Vor allem aber baumelte ein Zahlenschloss an seinem Rad.

Ich kam traditionell schon als Zweiter. Vor Aufregung hielt ich es regelmäßig schon kurz nach dem Frühstück nicht mehr daheim aus und lungerte bereits Stunden vor dem Abfahrtstermin am Treffpunkt herum.

Ebenfalls viel zu früh am Platze war der dreiköpfige Arminia-Fanklub „Steinhagen-Nord“. Im Bielefelder Vorort war zwar mangels geografischer Ausdehnung der Norden zugleich auch Süden, Westen und Osten, was aber bei der Namensfindung fröhlich ignoriert wurde. Der Anführer der Steinhagener hatte zudem das Vereinsemblem auf seiner Jeansweste handschriftlich durch einen Hinweis ergänzt: „Vorsicht, Lebensgefahr!“ Angesichts seiner Körpergröße von etwa 1,67 Metern ließ das auf viel Humor, zumindest aber auf ein gesundes Selbstbewusstsein schließen.

Dann schlurfte ein aschfahler Mittvierziger im Bundeswehrparka auf den Parkplatz, der auch in der Aussegnungshalle eine formidable Figur gemacht hätte. Als Nächstes zwei Nachwuchshooligans mit Schirmen in der Hand. Vielleicht würde es ja regnen im August. Und schließlich trudelte so langsam der Rest der Besatzung ein, die sich an jedem zweiten Sonntag in den späten achtziger Jahren in einem klapprigen Bus auf den Weg zu den Auswärtsspielen der Bielefelder Arminia in der Oberliga Westfalen machte.

Wer sich nun auf dem Parkplatz umschaute, konnte den Eindruck gewinnen, Wes Craven habe zum Casting gerufen. Positiv formuliert hatte sich hier nicht gerade die intellektuelle Elite der Stadt versammelt. Stattdessen etwa drei Dutzend verlorene Seelen, die schlicht nichts Besseres vorhatten, als sich sonntags mittags tatsächlich in marode Reisebusse zu setzen, mit deprimierenden Zielorten wie Wanne-Eickel, Erkenschwick und Buer-Hassel, in denen man auf die Idee kommen konnte, die Alliierten hätten den Ort gerade erst nach schweren Kämpfen eingenommen. Abfahrt war meist gegen 12 Uhr, es sei denn, es ging in gottverlassene sauerländische Marktflecken, in denen unserem Busfahrer von mürrischen Bauern auf klappernden Hanomag-Treckern vage der Weg zum Stadion gewiesen wurde.

Nun hätte es auf jeden Fall los gehen sollen, jedenfalls wenn es nach dem Reiseleiter gegangen wäre, einem angejahrten Vereinsfaktotum namens Rudi. Der wartete stets mit grimmiger Miene auf das Eintreffen des bestellten Fahrzeugs und verkündete alle fünf Minuten mit fester Stimme: „Dann wollen wir mal!“ Dazu fehlte allerdings immer noch der Bus. Oder was man so „Bus“ nennt. Denn das Gefährt, das abermals eine halbe Stunde später auf den Parkplatz bog, war offenbar in Rumänien mehrfach durch den TÜV gefallen. An den Radkappen hatte man handtellergroße Rostflecken flüchtig nachlackiert, die Heckscheibe war gesprungen, viele Sitze mussten mal Kopfstützen besessen haben. Dafür aber war der Busfahrer gut drauf. Ein bisschen zu gut drauf, für Rudis Geschmack. „Sagen Sie mal, sind Sie nüchtern?“, fragte er misstrauisch. „Tja“, sagte der Busfahrer. Das klang beinahe wie „ja“, fand Rudi. Es konnte also losgehen.

Die hintere Einstiegstür ließ sich erwartungsgemäß nicht öffnen. Vorne wurde also gedrängelt. Udo Lattek sicherte sich hektisch den Platz hinter dem Busfahrer, die Steinhagener besetzten grölend die Rückbank. Offenbar glaubten sie an die alte Regel, nach der hinten die lässigen Typen sitzen und vorne die Idioten. Das mochte für Kursfahrten in der gymnasialen Oberstufe gelten. Hier genügte ein Blick, um festzustellen, dass es in diesem Bus prinzipiell kein Hinten, sondern nur vorne gab. Das Gefährt setzte sich quietschend in Bewegung und schlingerte vom Parkplatz. Im hinteren Teil fiel krachend ein Mülleimer um. Offenbar hatte der Fahrer größte Mühe, das Lenkrad im Zaum zu halten. Am Montag war das sicher der große Aufmacher im Lokalteil: „Todesfalle Bus! So grausam starben die Fußballanhänger!“ Die anderen Insassen schienen meine Sorge allerdings nicht zu teilen. Die Stimmung war bereits jetzt bestens, zumal sich nun ein Schnauzbart aus der dritten Reihe mit kehliger Stimme zu Wort meldete.

— „Bielefelder, wo seid ihr?“,
brüllte er erwartungsfroh.
— „Hier!“, antwortete der Bus.
— „Was trinkt ihr?“
— „Bier!“
— „Wie viele Kinder habt ihr?“
— „Vier!“
— „Warum nicht mehr?“
— „Sack war leer!“

Sack war leer. Das fing ja schon mal gut an. Mein Sitznachbar, ein Mittvierziger mit rasselndem Atem, fingerte grinsend zwei Bierflaschen aus einer Plastiktüte unter seinem Sitz und reichte mir eine. Währenddessen hatte sich der Busfahrer zumindest einigermaßen sortiert und begann sein fest einstudiertes Unterhaltungsprogramm abzuspulen. „Ich schnall hier mal das Lenkrad fest und komm nach hinten zu den Mädels“, ein Kalauer, der sicher bei den fidelen Senioren prächtig ankam, die er sonst wochenends in die Lüneburger Heide kutschierte. In unserem Bus hingegen nur ratlose Blicke: welche Mädels?

An dem hundertprozentigen Männerüberschuss sollte sich auch in den nächsten Jahren wenig ändern. Hin und wieder fuhren mal ein paar Lebensgefährtinnen zur Kontrolle mit, der Mix aus Alkohol, Schweiß und Gegröle, der weite Teile der Überlandfahrten dominierte, schreckte die meisten jedoch rasch ab. Eine stieg schon auf dem Almparkplatz kopfschüttelnd wieder aus, bevor wir losgefahren waren. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Und einmal geriet eine Gruppe amerikanischer Austauschstudentinnen irrtümlich in den Bus zum Auswärtsspiel in Neunkirchen. Sie dachten angeblich, es ginge hier zur Stadtrundfahrt. Bis heute ein Mysterium, wie man auf die krude Idee kommen konnte, in Bielefeld eine Stadtrundfahrt unternehmen zu wollen. Auf jeden Fall machten mehrere Businsassen tollkühn den Studentinnen den Hof. Höhepunkt, bzw. Tiefpunkt der Brautschau war dann ein gelallter und in Rekordschnelle abgelehnter Heiratsantrag, als wir gerade das Kamener Kreuz passierten („April, I need you!“). April hatte aber erstaunlicherweise anderes im Leben vor. Kein Drama, das Stammpersonal blieb ohnehin lieber unter sich.
Unter den ständigen Mitfahrern waren dann auch ein paar besonders rasante Gestalten. Ein Kuttenträger, dessen rote Nase beeindruckendes Zeugnis jahrzehntelangen Alkoholmissbrauchs war und der allseits hämisch „der Einpeitscher“ genannt wurde, weil er von der fixen Idee besessen war, es habe irgendwann vor langer Zeit im Fanblock eine Abstimmung gegeben, aus der er siegreich hervor gegangen sei. Mantraartig wiederholte er immer wieder den Satz: „Sie haben mich zum Einpeitscher gewählt!“, bevor er sich seine Mütze ins Gesicht zog und wegdämmerte. Meist verschlief er auch das Spiel und musste vom Reiseleiter nach der Rückkehr in Bielefeld mühsam aus dem Bus bugsiert werden.

Neben dem Einpeitscher saß in der Regel ein kompakter Engländer namens Richie, Soldat der britischen Rheinarmee, der sich bleibenden Ruhm erwarb, als er an der Raststätte Gütersloh irrtümlich gegen einen Elektrozaun pinkelte. Kreuzbeinig wankte der gute Mann zurück in die Sitzreihe und war nur so halb damit einverstanden, dass der Busfahrer grinsend zum Bordmikrofon griff und hineinröhrte: „Applaus für Richie! Der hat jetzt einen Kurzen in der Hose!“ Richies Gesicht nach zu urteilen, entging der Fahrer jedenfalls nur knapp dem Schicksal, jämmerlich in der Großraumdose ertränkt zu werden, aus der zuvor die Bockwürste serviert worden waren.

Direkt vor mir saßen die beiden fickrigen Nachwuchsschläger, die offenbar keinen Platz mehr im offiziellen Hooligan-Bus gefunden hatten, der stets parallel zu unserem vom Bielefelder Jahnplatz aus fuhr und eine Truppe erfahrener Straßenkämpfer versammelte. Der schmächtige Nachwuchs hatte hingegen offenbar noch an keiner nennenswerten Hauerei teilgenommen und fantasierte in Schlägerfachsprache über künftige Bewährungsproben. Die wahrscheinlichste Variante, nämlich dass die beiden Hänflinge wie Römer in Asterix-Comics in hohem Bogen ins Gebüsch fliegen würden, wurde jedoch nicht thematisiert.

Der Busfahrer hatte derweil seine Lieblingskassette eingeschoben, auf der Evergreens und aktuelle Discofox-Adaptionen, die offenbar ein befreundeter Alleinunterhalter auf der Bontempi-Heimorgel neu arrangiert hatte, zu einem gruseligen Mix vereint waren. Bis heute muss ich bei Roland Kaisers schmissigem „Ich glaub, es geht schon wieder los!“ an die gequälten Gesichter der Busbesatzung denken, die die röchelnde Orgel mühsam zu überhören versuchte. Wir waren dann immer sehr dankbar, wenn der Fahrer für den traditionellen Halt auf der Raststätte Hamm-Rhynern auf die Abbiegespur bog. Das Restaurant war offenbar kurz nach der Währungsreform notdürftig renoviert worden. Als wir im Schankraum einfielen, genügte jedoch ein Blick auf das resignierte Kassenpersonal, um zu begreifen, dass der Laden offenbar bereits durch Hannoveraner auf der Durchreise in den Westen gebrandschatzt worden war. Das wiederum hinderte einige Mitfahrer nicht daran, ohne Umweg über die Kasse einzukaufen. Man schaute halt, was noch da war. Einer fingerte tatsächlich ein paniertes Schnitzel aus der Auslage, klemmte es sich unter die Bomberjacke und lief damit aus dem Laden. Als ihn Mitarbeiter der Raststätte im Bus stellten, hatte er das Schnitzel bereits aufgefuttert, konnte aber den gigantischen Fettfleck auf dem T-Shirt nicht so recht erklären. Bisweilen verzögerte sich die Abfahrt um Stunden, weil Udo Lattek blindlings eine Mark in den Spielautomaten geworfen hatte und nun plötzlich 100 Sonderspiele abwarten musste. Mit einem Beutel voller Silbermünzen kam der Kollege zurück zu den Mitreisenden, deren Stimmung „explosiv“ zu nennen dezent untertrieben wäre. Er hätte den Beutel allerdings auch richtig festhalten sollen, so wurde er ihm flugs entrissen und das Hartgeld unter Gejohle unter den Mitreisenden verteilt.

Wenn wir ankamen, hielt sich die Euphorie in Grenzen. Der Alltag in der Oberliga Westfalen war zu deprimierend. Auf dem Platz wurden schon Passstafetten über mehr als zwei Stationen als Kabinettstückchen bejubelt. Und auf den Rängen? Tiefpunkt war ein Spiel auf dem Nebenplatz des Bochumer Ruhrstadions, das Arminia gegen die VfL-Reserve mit 0:2 verlor, während eine 50 Mann starke Abordnung glatzköpfiger BO-City-Hools bei den beiden Nachwuchshauern eine Schlägerei anfragte. „Wir sind nur zu dritt“, erklärte einer der Junghooligans ängstlich und rechnete mich erstaunlicherweise dazu. Replik des Bochumers: „Egal, drei gegen drei!“ Wir verbrachten den Rest des Spiels in Sichtweite der gelangweilten BGS-Einsatzhundertschaft.

Meist kamen wir am späten Abend wieder in Bielefeld an. Wortlos räumten wir das Gefährt. Als Letztes wurde die verpennte Kutte aus dem Bus geschubst. Unsicheren Schritts wankte er davon. Allzu viel hatte er vom Spiel nicht mitbekommen. Streng genommen überhaupt nichts. Aber immerhin hatten sie ihn zum Einpeitscher gewählt.