Der erstaunliche Spagat von Julian Nagelsmann
Hennef (dpa) - Julian Nagelsmann ist auf einem Fußballplatz mitten im Nirgendwo und hüpft. Erst auf dem linken Bein, dann auf dem rechten, kurzes Schütteln, und schon steht er wieder, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben.
Selbst der, der genauer hinsieht, kann keinerlei Rhythmus in den Bewegungen erkennen. Nagelsmann ist aber auch nicht plötzlich verrückt geworden. Der jüngste Coach der Bundesliga-Geschichte friert. „Es sind, glaube ich, gefühlte minus 15 Grad hier“, sagte er in der vergangenen Woche. Dann bewegt er sich ziellos in eine andere Ecke des Platzes. Wenig später beginnt seine Prüfung.
Der Platz, auf dem Nagelsmann im Flutlicht läuft, liegt an einem Waldstück. An seine andere Seite grenzt ein Acker. Es könnte auch das Trainingsgelände seines Vereins, der TSG Hoffenheim, sein. Dort gibt es zwar keinen Wald, aber drumherum sind viele Äcker. Nagelsmann aber ist über 250 Kilometer von Hoffenheim und dem Abstiegskampf der Fußball-Bundesliga entfernt. Er ist in Hennef an der Sieg.
Der 28-Jährige befindet sich in der Endphase seiner Ausbildung zum Fußballlehrer. Zehn Monate dauerte der Lehrgang, am Mittwoch entscheidet eine Prüfungskommission, ob er den Trainerschein bekommt. In den letzten Tagen musste Nagelsmann unter anderem mehrere Klausuren schreiben. Seinen wichtigsten Test aber hat er an diesem kalten Abend an dem Waldrand von Hennef. Er hat 20 Minuten Zeit, um mit der A-Jugend des benachbarten Bonner SC eine Übung namens „Red Zone“ durchzuführen. Es ist der praktische Teil seiner Prüfungsphase.
Sollten ihm nun überraschend die Nerven versagen, wäre er nicht mehr nur der jüngste Trainer in der Historie der Bundesliga, sondern bald vielleicht auch einer der kürzesten. Denn: „Grundsätzlich ist es so, dass man für die Tätigkeit eines Cheftrainers in der ersten und zweiten Liga die Lizenz benötigt“, wie es bei der Deutschen Fußball Liga (DFL) heißt. Die würde er bei einem Scheitern nicht erhalten.
Nagelsmann steht also auf dem Platz, vor ihm wärmen sich die Jugendlichen auf. Er sagt: „Ein paar Meter Fußgelenksarbeit, ganz locker!“ Es ist der Tag nach der 1:3-Niederlage der Hoffenheimer bei Borussia Dortmund. Als Nagelsmann kurz wegschaut, beginnt ein Spieler zu tuscheln: „Ey, Jungs. Die haben gestern in Dortmund verloren. Geht ma' hin und frag ihn, wie er sich fühlt.“ Gelächter.
Die U19 des Bonner SC ist eine Truppe mit vielen mittelmäßig begabten Fußballern, aber auch ein paar talentierten. In der vergangenen Saison hat die Mannschaft noch in der A-Jugend-Bundesliga gespielt. Dann folgte der Abstieg, jetzt stehen sie im unteren Mittelfeld der Mittelrheinliga und müssen manchmal Platzverweise verkraften. Die Spieler heißen Kevin, Ali, Antonio oder Ferhat. Nagelsmann nennt sie fast alle beim Vornamen. Er verteilt sie auf einem verkleinerten Spielfeld mit zwei Toren, die Übung beginnt.
Zwei Männer stehen dick eingepackt am Spielfeldrand und beobachten ihn. Der eine ist Frank Wormuth, Chefausbilder beim Deutschen Fußball-Bund (DFB), leicht erkältet, die schwarze Mütze tief in die Stirn gezogen. Der zweite Prüfer läuft am Rand hin und her, auch er friert und sagt: „Eigentlich ist die janze Prüfung hier ja wie 'ne Castingshow. Die wahre Qualität eines Trainers zeigt sisch erst in den Drucksituationen.“ Es ist Bernd Stöber, graue Haare und flotte Sprüche. Ein Kölner. Auf den ersten Blick sympathisch. Und eigentlich könnte er sich bei Nagelsmann beschweren.
Denn wenn der nicht mit 28 Jahren Chefcoach von Hoffenheim geworden wäre, würde wohl immer noch von Stöber als jüngstem Trainer in der Bundesliga-Historie geredet werden. Ist er im Prinzip ja auch noch. Als Stöber am 23. Oktober 1976 im Alter von 24 Jahren den 1. FC Saarbrücken im Bundesliga-Spiel bei „meinem Effzeh Köln“ betreut, ist er aber nur Interimscoach. Nach der 1:5-Pleite wird er abgelöst. Nagelsmann hat einen Vertrag bis 2019. Und jetzt ist ausgerechnet dieser Stöber einer seiner Prüfer. Wie kleine die Fußball-Welt ist.
Wormuth und Stöber reden kaum, als Nagelsmann seine Prüfung absolviert, schon gar nicht geben sie ihm irgendwelche Anweisungen. Sie sehen einen jungen Trainer, der alle zwei bis drei Minuten durch die Finger pfeift und die Übung unterbricht. Dann packt er einzelne Spieler an den Schultern, verschiebt sie, stellt ihnen Fragen: „Was ist hier das Problem?“ Oder: „Was kann ich tun, damit es besser wird?“
Fast auf der ganzen Welt wurde in den vergangenen Wochen über diesen 28-Jährigen berichtet. Sogar der arabische Nachrichtensender Al Jazeera widmete Nagelsmann einen kurzen Bericht. Englische Kommentatoren nannten ihn etwas despektierlich „Babyface“. Dennoch ist an allem, was gesagt wird, oft auch etwas dran. Und bei Julian Nagelsmann ist es jedenfalls so, dass man nicht erst wissen muss, dass er der jüngste Coach der Liga ist. Man kann es auch sehen.
„Wer muss hier anspielbar sein?“. Nagelsmann stellt wieder eine Frage. Ali überlegt kurz, dann zeigt er auf, Nagelsmann nickt ihm zu. Wie in der Schule. „Der da“, sagt Ali und meint den Außenverteidiger. „Richtig“, sagt Nagelsmann, packt den Außenverteidiger an den Schultern und schiebt ihn zurück in seine Position. „Denn wenn er da vorne stehen bleibt, ist das total leicht zu verteidigen.“ Ali scheint zu verstehen. „Achso“, sagt ein anderer Spieler.
Während Nagelsmann in dieser Situation erklärt, verschiebt, die Spieler anpackt und verdeutlicht, flüstert der Torwart seinem Abwehrspieler etwas zu: „Das ist der jüngste Trainer der Geschichte!“, meint der Keeper und bekommt vom Verteidiger eine Gegenfrage: „Wer denn?“ Der Torwart schüttelt den Kopf.
Wer sich fragt, wie man mit nur 28 Jahren Trainer eines Bundesliga-Teams sein kann, findet eine Antwort vielleicht in der Sportschule Hennef, die nur wenige hundert Meter von dem Platz am Wald entfernt ist. Im zweiten Obergeschoss eines von außen verglasten Gebäudes liegt die Hennes-Weisweiler-Akademie, Heimat der Fußballlehrerausbildung. Im ersten Geschoss ist eine Turnhalle. Unmittelbar vor dem Gebäude, natürlich, ein Sportplatz.
Zwei Wochen vor der praktischen Prüfung von Nagelsmann sitzen 24 müde Trainer in einem kleinen Raum im zweiten Geschoss, in dem die Luft stickig ist. Eigentlich müsste Nagelsmann hier auch sitzen, aber weil er ja spontan seinen Club vor dem Abstieg retten soll, ist er für die letzten Unterrichtsstunden vor den Prüfungen entschuldigt. Zehn Monate dauert die Ausbildung, und wer in die Gesichter im Raum schaut, sieht, dass zehn Monate ganz schön lang sein können.
Ein Dozent des DFB erklärt gerade, dass es für Profifußballer nicht unnormal ist, morgens um 10 Uhr Nudeln zu frühstücken. Roger Stilz, ehemaliger Co-Trainer des Hamburger SV, stellt eine Frage: „Können wir mal kurz eine Pause machen?“ Jeff Strasser gähnt.
Für Borussia Mönchengladbach und den 1.FC Kaiserslautern hat der Luxemburger in der Bundesliga 194 Spiele gemacht. Im Lehrgang saßen er und Nils Drube, Scout bei Bayer Leverkusen, zehn Monate lang neben Nagelsmann. Kann Nagelsmann denn nun trotz seines jungen Alters schon ein guter Bundesliga-Coach sein?
Strasser, baumlang und markante Gesichtszüge, überlegt kurz. Aber es ist nicht klar, ob er wegen Nagelsmann überlegt oder einfach nur, weil er eigentlich immer erst mal überlegt. „Das Alter ist nicht entscheidend, sondern der gegenseitige Respekt“, sagt der 41-Jährige. Dann überlegt er noch mal kurz. „Aber es könnte natürlich mal ein Faktor sein. Vielleicht wenn er mehrmals ältere Spieler aus dem Kader streicht.“
Drube kann sich an eine kuriose Szene aus dem Lehrgang erinnern. Als Hoffenheim Ende Oktober bekanntgibt, dass Nagelsmann im Sommer den Niederländer Huub Stevens als Chefcoach beerben soll, habe „innerhalb von einer Stunde circa 500 mal das Handy von "Jule" geklingelt“. Er habe dann mehrmals den stickigen Raum verlassen. Das sei eine ganz neue Erfahrung für ihn gewesen. „Da hab ich ihm auch gesagt, hol dir auf jeden Fall 'ne zweite Nummer, dass du auch eine klare Trennung hast zwischen Privatleben und Beruf. Ich glaube, das ist brutal schwer in dem Alter.“
Stevens tritt dann im Februar überraschend aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig zurück. Nagelsmanns Handy klingelt anschließend wieder. Der „Baby-Mourinho“, wie die „Bild“ ihn nennt, folgt eher als geplant auf Stevens, der allein schon so aussieht, als sei der Begriff Autorität mit ihm verwandt. Die Unterschiede zwischen zwei Trainern könnten kaum größer sein. Auch zwischen zwei Menschen nicht.
Angesprochen darauf stellt Drube zum Abschluss noch eine Gegenfrage: „Woran macht sich denn Autorität fest? Am Siezen, am Duzen, im Alltag? Oder ist es einfach die Kompetenz und das Fachwissen?“ Wenn das die geeignete Maßeinheit für Autorität ist, dann ließe sich Nagelsmann ohne jeden Zweifel große Autorität bescheinigen.
An dem Abend am Waldrand von Hennef lässt sich das beobachten. Eigentlich hat Nagelsmann etliche andere Dinge im Kopf, als sich für 20 Minuten einer Bonner A-Jugend zu widmen. Drei Punkte trennen die TSG in der Bundesliga vom Relegationsrang. Direkt nach der Prüfung muss Nagelsmann wieder von Hennef Richtung Hoffenheim fahren. Er weiß selbst nicht, ob seine langen Beine in letzter Zeit öfter auf dem Fußballplatz gestanden oder unter dem Lenkrad seines Wagens geklemmt haben. Dennoch lässt er in seiner Prüfung keinerlei Zweifel an seinen großen Fähigkeiten aufkommen.
Jungs wie Hakan, Murat oder Ali, die da vor ihm stehen, wollen den Fußball eigentlich nicht erklärt haben, sie wollen einfach nur spielen. Selbst als Nagelsmann nach der Prüfung in die Nachbesprechung mit Wormuth und Stöber geht, kicken sie einfach weiter. Aber es scheint sie nicht zu stören, als Nagelsmann sie vorher etliche Male unterbricht und das Spiel immer wieder stoppt. Es scheint eher so, dass sie vielleicht zum ersten Mal begreifen, dass sich Fußball nicht nur spielen, sondern auch verstehen lässt.
Natürlich hat Nagelsmann die Prüfung bestanden. Wenn auch seine Leistung in der mündlichen Abschlussprüfung für ausreichend befunden wird, bekommt er am Mittwoch endlich die Lizenz. Nach fast einem Jahr im Lehrgang. „Ich bin sehr froh, wenn es vorbei ist“, sagt er nach der praktischen Prüfung. Wenig später steigt er in sein Auto.