Hoffenheims Absturz: Fußball von der Stange

Sinsheim (dpa) - Was ist alles schief gelaufen bei 1899 Hoffenheim? Den einstigen Himmelsstürmern aus dem Kraichgau droht der Abstieg - die Bundesliga trägt deshalb nicht Trauer.

Vor gut vier Jahren tönte Ralf Rangnick vor dem Bundesliga-Schlager seines Clubs beim FC Bayern: „Wenn Sie flotte Sprüche hören wollen, müssen Sie nach München fahren. Wenn sie flotten Fußball sehen wollen, sind Sie in Hoffenheim richtig.“ Der Dorfverein unterlag zwar mit 1:2, wurde aber Herbstmeister 2008. Bei der Auszeichnung zur zweitbesten deutschen „Mannschaft des Jahres“ in Baden-Baden sagte Manager Jan Schindelmeiser vor einem Millionen-Publikum in Fernsehen damals provokant: „Ich weiß, dass die Bayern gern Herbstmeister geworden wären. Wir widmen ihnen diesen Titel, weil für uns der Titel nicht so wichtig ist.“ Rangnick und Schindelmeiser sind längst weg, am Sonntag spielt 1899 Hoffenheim zu Hause gegen die Bayern - unter völlig veränderten Vorzeichen.

Nach dem 1:2 in Augsburg liegt die Mannschaft nach übereinstimmenden Aussagen von Chefcoach Marco Kurz und Manager Andreas Müller „am Boden“. Bei der TSG ist seit jenen tollen Tagen so viel schief gelaufen, dass dem von vielen Fans als Retortenclub gehassten Verein der Abstieg droht. Die ganze Liga würde sich darüber freuen, sagte kürzlich ein Spitzenfunktionär eines konkurrierenden Erstligisten in trauter Runde. Seine Spielkultur hat Hoffenheim ebenso verloren wie seine Faszination - und am schlimmsten: seine Identität.

Zuletzt stellten die Fans in ihrer Hilflosigkeit und Wut ein Spruchband „Nie mehr 2. Liga“ auf den Kopf - aber die Tabelle lässt sich nicht umdrehen, nicht mit allem Geld von Mäzen Dietmar Hopp. Müller würde gerne „den Roten Faden wieder aufnehmen“, mittelfristig - wenn er das noch darf und überhaupt kann. Kurzfristig gehe es nur darum, die Klasse zu halten.

Wie ein perfektes Strickmuster wirkte einst das Projekt Hoffenheim. Rangnick lieferte die sportliche Anleitung: perfektes Scouting, innovative Taktik, klare Linie - aber auch immer verbunden mit einem Hauch von Größenwahn. Der besessene Fußball-Professor ging am Neujahrstag 2011 im Streit - weil der Club den Brasilianer Luiz Gustavo an die Bayern verkauft hatte. Heute hat die TSG nicht mehr einen feinsinnigen und klugen Manager wie Schindelmeiser, sondern einen wie Müller, zu dessen vor Kameras geäußertem Vokabular Begriffe wie „Schlacht“ und „einen Arsch in der Hose haben“ gehören.

Zudem befeuerte des Managers Verpflichtung im September den Verdacht, dass der Einfluss von Spielerberater Roger Wittmann größer ist, als es dem Verein gut tut. Mit Wittmann wickelte Müller schon zu Schalkes Zeiten Toptransfers ab, der Hopp-Freund betreut etwa ein halbes Dutzend TSG-Profis. Wittmann hatte laut Hopp den Mäzen auch „möglicherweise“ auf die Idee gebracht, Markus Babbel zu holen. Der verstand sich in erster Linie als Ex-Profi, der bei großen Vereinen wie dem FC Bayern und FC Liverpool gespielt hat und Europameister war. „Schlussendlich“ - so sein Lieblingswort bei öffentlichen Spielanalysen - musste auch er gehen. Viel zu spät, sagen Kritiker heute.

Hopp soll bislang nach Medienberichten etwa 350 Millionen Euro in Infrastruktur und Mannschaft gesteckt haben. Ausgerechnet das Lieblingsprojekt des sozial engagierten SAP-Mitbegründers geriet zu einem „Hire-and-fire“-Club: Nach Schindelmeiser kam und ging Ernst Tanner, nach Rangnick und vor Babbel gaben sich Holger Stanislawski und Marco Pezzaiuoli die Klinke in die Hand.

Milliardär Hopp hat seinem Heimatverein ein nagelneues Fußball-Stadion hingestellt. In der Rhein-Neckar-Arena von Sinsheim sank zuletzt die Zuschauerzahl kontinuierlich und oft übertönen die Gesänge der gegnerischen Fans die der heimischen. Der 33 Mann starke Kader ist eine Ansammlung von Profis aus aller Welt. Darunter sind Fehleinkäufe wie Mittelfeldspieler Chris, der schon in Frankfurt und Wolfsburg ständig verletzt war und in Hoffenheim noch keine Minute gespielt hat. Zuletzt durfte Müller zwölf Millionen ausgeben für Noteinkäufe wie den Peruaner Luis Advincula, der einen europäischen Winter noch nicht erlebt hat und erstmal mit einem Autocrash auffiel.

Hopp sprach davon, dass sich der Club selbst tragen müsse, er beschwor das „Financial Fairplay“, an das sich Hoffenheim allenfalls als Europacup-Teilnehmer gebunden fühlen muss. Aber schließlich hatte Babbel, der auch noch für ein paar Monate Manager werden durfte, die Europa League als Saisonziel ausgegeben. „HD - EL 1899“ lautet immer noch das Nummernschild auf dem Mannschaftsbus. „Das heißt nur erste Liga“, erklärte Müller mit einem gequälten Lächeln.

Hopp - das muss man ihm zugutehalten - sprach nie von der Champions League, schließlich gilt der SAP-Mitbegründer als heimatverbunden und bodenständig. Der 72-Jährige betonte bei den ersten Abwärtstrends, er wolle ein Team mit jungen Spielern, am besten aus Deutschland und der Region, aber das glaubt ihm irgendwann keiner mehr. In der heutigen Bundesliga-Mannschaft steht kein Eigengewächs, dabei haben die Hoffenheimer ein Nachwuchszentrum, ein Stadion, einen Personalstab und ein Trainingsgelände in Zuzenhausen, um die sie halb Fußball-Deutschland beneidet.

Der Verein mit Gesellschafter Hopp, Präsident Peter Hofmann, diversen Geschäftsführern und wechselnden Managern und Trainern an der Spitze machte seit Rangnicks Abgang viele Fehler. In dieser Saison überschlugen sich dann die Ereignisse: Hoch anzurechnen ist den Hoffenheimern jedoch, dass sie den grässlichen Verkehrsunfall ihres Junioren-Nationalspielers Boris Vukcevic, der wochenlang im Koma lag, nie als Mitursache für die Krise nannten.

Der Absturz bekam dann ein Gesicht mit Indianerfrisur - das von Tim Wiese. Wenn andere Vereine einen Flankengott haben, dann hat die TSG einen Flankenteufel: Der Ex-Nationaltorwart, dessen Verpflichtung bis heute kaum jemand nachvollziehen kann, patzte bei hohen Bällen derart häufig, dass die halbe Liga über ihn lachte. Müller und Kurz nahmen ihn aus dem Kader, „um ihn zu schützen“. Wiese sitzt seitdem in schwarzer Lederjacke auf der Tribüne und gab schon mal von sich, dass er „ein schönes Leben“ habe - kein Wunder bei einem geschätzten Jahresgehalt von 3,5 Millionen Euro.

Weitere Negativschlagzeilen lieferten Marvin Compper bei seinem überraschenden Abgang - der Innenverteidiger war nach Vereinsangaben nicht motiviert genug für den Abstiegskampf - und erneut Wiese, der ebenso wie sein Kollege Tobias Weis bei einer Faschingsparty pöbelte und vom Verein sanktioniert wurde.

Vor lauter Personalwechseln und Skandälchen spricht kaum jemand mehr darüber, dass auch dieser Hochgeschwindigkeitsfußball, mit dem Hoffenheim einst begeisterte, völlig verloren gegangen ist. Die Mannschaft funktioniert spätestens seit Babbel wie ein Tischkicker: Fußball von der Stange. Die ganze TSG steht nun vor dem Trümmerhaufen einer Vision, wenn man die von Hopp finanzierten architektonischen Gebilde beiseite lässt. Das Mitleid in der Branche mit den einstigen Himmelsstürmern hält sich in Grenzen. „Niemand schluchzt“, betitelte die „Süddeutsche Zeitung“ diese Woche einen Kommentar über 1899 Hoffenheim anno 2013.