Aufstieg in die erste Liga SV Darmstadt: Die "Lilien" sind aufgeblüht
Der SV Darmstadt 98 ist nach 33 Jahren wieder erstklassig und setzt einen Kontrapunkt im Kommerzbetrieb Bundesliga.
Darmstadt. Das musste bei dem Gedränge und Geschubse ja passieren. Irgendjemand hat Rüdiger Fritsch bei den Feierlichkeiten im baufälligen Böllenfalltor den Bügel der Brille abgerissen. „Ist aber nicht schlimm“, entfuhr des dem reichlich derangiert aussehenden Präsidenten des SV Darmstadt 98, „ich werde einen Optiker finden, der mir das wieder richtet.“ Kaum hatte der 53-Jährige den Satz ausgesprochen, erreichte ihn die nächste Bierdusche der unter der Tribüne tanzenden Helden. „Für diese famose Leistung gibt es nicht die richtigen Worte“, sagte Fritsch noch. Der erst vor sechs Jahren vor der Insolvenz gerettete Verein hat etwas Einzigartiges im deutschen Fußball hinbekommen: Durchmarsch von der dritten in die erste Liga.
Bereits seit Tagen war die südhessische Stadt mit ihren knapp 150.000 Einwohnern ob des möglichen Bundesligaaufstiegs außer Rand und Band, doch nach dem 1:0 gegen den FC St. Pauli brachen alle Dämme. Zeitzeugen beteuern glaubhaft, dass die Feierlichkeiten zu Pfingsten 2015 die Freudenfeste nach den Aufstiegen 1978 und 1981 weit übertrafen. Auf der Bühne am Residenzschloss präsentierte sich am Montag die Mannschaft, nachdem sie einen Autokorso durch die verstopften Straßen zurückgelegt hatte.
Auf den blauen T-Shirts mit der hessischen Aufschrift „Uffsteigbar“ stand in Kleingedrucktem: „Die Wahnsinnigen!“ Eine Anspielung darauf, dass Akteure wie Aytuc Sulu, Romain Bregerie und Benjamin Gorka, Leon Balogun, Marcel Heller oder Dominik Stroh-Engel anderswo schon ausgemustert oder teilweise arbeitslos waren, ehe der im Winter 2012 verpflichtete Dirk Schuster sie nach und nach um sich scharte. „Jetzt in der Bundesliga zu stehen, erfüllt uns mit großem Stolz“, konstatierte der Trainer ergriffen, der aus einer Ansammlung von Verlierern ein Ensemble von Gewinnern gemacht hat.
Niemand darf von dieser spielerisch limitierten Elf fußballerische Wunderdinge erwarten, denn der 47 Jahre alte Schuster predigt einen schnörkellosen Spaßverderber-Stil, bei dem Körperlichkeit und Ordnung die obersten Gebote sind. Hinten wurden die wenigsten Gegentore der Liga (26) zugelassen, vorne half mehr als ein Dutzendmal ein Standard. So auch am letzten Zweitliga-Spieltag: Tobias Kempe, Sohn des ehemaligen Bundesligaspielers Thomas Kempe, traf mit einem raffinierten 28-Meter-Freistoß (71.).
Es ist ein fast anarchischer Ansatz, der den 2012 vom Absturz in die Regionalliga bedrohten Klub in die Beletage bringt: mit einem der kleinsten Etats aller Zweitligisten, mit zehnmal so vielen Ehren- wie Hauptamtlichen, mit leidensfähigen wie treuen Fans, mit aufeinander gestapelten Containern als VIP-Areal, mit einem einzigen Trainingsplatz im Wald, dem Fußballer und Maulwürfe so zugesetzt haben, dass er seit Wochen nicht mehr benutzt werden konnte.
Aber eines steht fest: Diese verschworene Gemeinschaft wird sich mit Schwerstarbeit zu wehren wissen. Mit ihren Mitteln. Und vor allem: in ihrer Heimat. Das auf Kriegsschutt gebaute Stadion mit seiner auf 16.500 Zuschauern begrenzten Kapazität ist etwas für Nostalgiker. Der Verein weiß, dass er nicht nur bei der Anzahl der Medienarbeitsplätze noch gewaltig nachbessern muss, aber die DFL wird die Spielstätte durchwinken. Und wie hat Fritsch für das Gastspiel des FC Bayern mit Startrainer Guardiola versprochen: „Wenn der Pep kommt, werden wir hier schon nochmal durchwischen.“