Deutsches Team Bastian Schweinsteiger - Risikopapier im DFB-Portfolio

Sein Gesundheitszustand hat einige Fragen und Bedenken aufgeworfen — Antworten kann Bastian Schweinsteiger in den kommenden Wochen nur auf dem Platz geben.

Zuversichtlich besteigt Bastian Schweinsteiger am Dienstag das Flugzeug, das die Nationalspieler in ihr EM-Domizil fliegt.

Foto: Andreas Arnold

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Évian-les-Bains. Bastian Schweinsteiger ist ein Führungsspieler, an seinem grundsätzlichen Wert für eine Fußballmannschaft gibt es nichts zu rütteln. Allerdings schwankt die Aktie Schweinsteiger ausgerechnet im EM-Jahr 2016 heftig. Von den Rückschlägen zum Jahresbeginn hat sich der Kurs noch nicht erholt. Allmählich steigt der Trend wieder, aber Analysten sind verunsichert: Der Kapitän könnte eine entscheidende Rolle bei dem Turnier in Frankreich spielen — oder eben auch nicht.

Kurz vor der Nominierungsfrist schien selbst der Kapitän nicht mehr unersetzlich und unangreifbar. Würde er nach seinen beiden Knieverletzungen rechtzeitig fit für die EM oder streicht Bundestrainer Joachim Löw den Mittelfeldspieler von Manchester United wegen eines zu hohen Ausfallrisikos? Fragen, die die Nation bewegten, aber Löw vertraute auf die Diagnosen aus seinem medizinischen Beraterstab und gab die Antwort. Marco Reus musste zuhause bleiben, Schweinsteiger durfte mitfahren.

Beendet war die Diskussion mit der Nominierung allein noch nicht, denn auch das Comeback bei der EM-Generalprobe gegen Ungarn (2:0) war nicht sonderlich geeignet, einen Schlusspunkt zu setzen. Der 23-köpfige Kader war schon festgelegt, bevor der „Kicker“ zu Beginn dieser Woche seine Schweinsteiger-Analyse mit den Worten „Der Kapitän: So reicht’s nicht“ betitelte. Schonungslos befand das Fachmagazin über den rund 25-minütigen Einsatz: „Schnell laufen musste er in dieser Phase […] nicht. Wäre er dazu in dieser Verfassung — Schweinsteiger ist augenscheinlich mit zu viel Gewicht unterwegs — überhaupt in der Lage?“ Schon einige Tage zuvor hatte der Kicker daran gezweifelt, ob Schweinsteiger bis zur EM in eine „turniertaugliche Verfassung“ kommen kann.

Was geht und was nicht geht, diese Frage kann nur Schweinsteiger in den anstehenden Spielen beantworten. Bei seinem Comeback wirkte er bei allem Engagement als Dirigent seiner Nebenleute im eigenen Spiel gehemmt, auch wenn man zu seiner Verteidigung nicht vergessen darf: Es war sein erst siebter Einsatz in einem Fußballspiel seit Jahresbeginn. Da darf man keine Spiel- und Wettkampfpraxis erwarten. Aber ist es dann vertretbar, einen derart angeschlagenen Spieler mitzunehmen? Auch das werden die kommenden Wochen zeigen.

Bastian Schweinsteiger ist momentan nun mal ein Risikopapier. Löw hat sich — genau wie bei Mats Hummels — für eine gewisse Portion Risiko entschieden. Hätten die Ärzte den Daumen gesenkt, hätte wohl auch Löw schweren Herzens auf Schweinsteiger verzichtet. Aber es scheint noch Hoffnung zu geben. „Er gibt der Mannschaft eine gewisse Sicherheit, wenn er mit seiner Persönlichkeit auf dem Platz steht“, sagte Löw zuletzt, und auch aus dem Mannschaftskreis bekommt der Kapitän Zuspruch. „Er gibt den Takt vor und ist unser Kapitän“, sagt etwa Jérôme Boateng. Julian Draxler erwartet, „dass Basti wie immer in den entscheidenden Momenten dabei sein wird“.

Die Personalpolitik des Bundestrainers ist auch eine Frage der Alternativen: Mit Philipp Lahm, Per Mertesacker und Miroslav Klose haben sich drei anerkannte Führungskräfte nach dem Titelgewinn bei der WM in Brasilien aus dem Länderspiel-Geschäft zurückgezogen. 14 Weltmeister hat Löw für das Turnier in Frankreich erneut nominiert. Schweinsteiger ist der älteste von ihnen. Im August wird er 32.

Aber wer sonst sollte die Führungsrolle übernehmen? Der Zweitälteste mit 31 Jahren und der Erfahrenste im Kader nach Länderspielen (128) ist Lukas Podolski. Er wehrt sich — zu Recht — dagegen, nur als Maskottchen abqualifiziert zu werden, hat aber aufgrund großer Konkurrenz zu wenig Einsatzzeit, um die Regie auf dem Platz zu übernehmen. Der 30-jährige Mario Gomez ist ebenfalls erfahren und zuletzt in der Türkei wieder aufgeblüht. In der Nationalmannschaft hat er mit Mario Götze aber einen quirligen Kontrahenten im Sturm. Gomez ist ein Kandidat für die Startelf, aber er hat keine Einsatzgarantie vom Bundestrainer.

Auch Torwart Manuel Neuer, Jérôme Boateng und der noch verletzte Mats Hummels haben das Format, einem Spiel ihren Stempel aufzudrücken. Der Haken: Eine gestandene Defensive kann zwar eine Mannschaft stabilisieren, aber die braucht auch in der Vorwärtsbewegung prägende Spielfiguren. Thomas Müller? Ist ein erfahrener Spieler, dessen Wort Gewicht hat und der immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hat, aber er ist eher ein Führungsspieler der zweiten Reihe. So wird es wohl am ehesten dem 26-jährigen Toni Kroos überlassen sein, die Regie an zentraler Stelle zu führen und in die Fußstapfen seines früheren Münchner Mannschaftskollegen zu treten.

Wobei das alles ja zu einem gewissen Grad noch Zukunftsmusik ist. Für 90 Minuten werde es im ersten DFB-Spiel gegen die Ukraine am kommenden Sonntag noch nicht reichen, hat Schweinsteiger schon erklärt, aber vielleicht — so hofft er — für 20 Minuten oder gar eine Halbzeit. Da werden Erinnerungen wach an Brasilien. Auch in die WM 2014 ging Schweinsteiger angeschlagen, fand über Kurzeinsätze wieder zu seiner Form und alter Stärke und war im WM-Finale von Rio de Janeiro die Lichtgestalt, an der sich die Mannschaft aufrichten konnte. Vielleicht hätte er es einigen Mannschaftskollegen gleichtun und beim vermeintlich besten Kurs aussteigen sollen. Aber all das ist, genau wie bei anderen Aktiengeschäften, reine Spekulation. Schweinsteiger hat sich anders entschieden. Er ist noch nicht satt. Auch das sprach für seine Nominierung.

Vor der EM ist er vielleicht noch nicht auf dem früheren Level seiner Angriffslust angekommen. Aber auch das hat Schweinsteiger durchblicken lassen: Vor Brasilien habe er in der Vorbereitung nicht einmal so viel arbeiten können wir in diesem Jahr. Das Ende ist bekannt. Schweinsteigers Karriereende im Trikot der Nationalmannschaft ist indes noch offen. Es kann sein, dass Frankreich eines der letzten Turniere für ihn ist, vielleicht ist es sogar sein letztes. Es wäre schade, wenn das einstige Edelpapier auf einem Tiefpunkt aus dem Handel genommen würde.

Schweinsteiger wird alles dafür tun, dass er das Parkett der Fußball-Börse mit einem Höchstkurs verlässt. Und Löw glaubt anscheinend daran. Ein Zocker ist der Bundestrainer sicher nicht, aber ein ausgeprägter Analyst. Ihm ist zuzutrauen, dass er ganz gut einzuschätzen weiß, wie Schweinsteigers Aktien gerade stehen. Löw muss sich an der Rendite des Turniers messen lassen — die führt, genau wie an der Börse, entweder zu begeisterten Anlegern oder zu einem massiven Vertrauensverlust. Es ist eben ein Risikogeschäft — mit unsicherem Ausgang.