Experten enttäuscht von DFB-Elf - Kritik an Löw

Düsseldorf (dpa) - In die Trauer und den Frust über den geplatzten EM-Traum der deutschen Nationalmannschaft mischt sich auch zum Teil harsche Kritik an den Personalrochaden von Joachim Löw.

Anders als in den Spielen zuvor habe der Bundestrainer beim 1:2 im Halbfinale gegen Italien kein glückliches Händchen bei der Auswahl seiner Startelf gehabt, lautet der fast einhellige Tenor der Fußball-Experten im Land. „Wir haben uns mit der Aufstellung selbst geschlagen“, moniert Ex-Nationalspieler Bernard Dietz in der „Bild“-Zeitung unverhohlen: „Das war ein Eigentor von Löw.“ Ex-Weltmeister Olaf Thon sieht im Bundestrainer den „Wechselkönig der EM“.

Insgesamt bleibt die Kritik wegen der großen Verdienste von Löw aber sachlich und ohne große Polemik. Und alle sind sich einig: Der Bundestrainer soll weitermachen und die junge Truppe zum WM-Titelkandidaten in zwei Jahren in Brasilien weiterentwickeln.

Gleichwohl reagiert Franz Beckenbauer, der die DFB-Elf als Teamchef 1990 zum WM-Gewinn führte, bestürzt auf den schwächsten Turnierauftritt der Elf. Der „Kaiser“ spricht dem jüngsten EM-Team die Titelreife ab. „Ich dachte, nach 16 Jahren, dem Sieg 1996 in England, sind wir wieder reif für den Titel“, erklärt er in seiner „Bild“-Kolumne. Insbesondere die Leistung vor der Pause ist ihm ein Rätsel. Das sei nicht die „wahre deutsche Elf“ gewesen, „sie wirkte phasenweise regelrecht leblos“. Beckenbauer stellt zudem fest: „Das Gerede vom Italien-Fluch scheint die Spieler etwas gelähmt zu haben.“

Anders als viele andere mag er das Scheitern nicht an „den Spieler-Wechseln von Jogi Löw festmachen“. Man dürfe auch nicht alles verdammen: „Das Halbfinale ist kein Dreck. Andere große Fußball- Nationen wie England, Frankreich, Holland hätten es gerne erreicht.“ Dennoch klingt das „Kaiser“-Fazit ernüchternd: „Irgendwas fehlt uns noch. Jetzt müssen wir wieder auf die nächste Titelchance warten.“

Der von Löw einst aussortierte Ex-Kapitän Michael Ballack sieht die Wechselspiele seines früheren Chefs als Grund für das Scheitern und nutzte als Experte im TV-Sender ESPN die Chance zur Retourkutsche. „Der Trainer hat vielleicht ein, zwei Wechsel zu viel gemacht. Sie haben mit 18, 20 Klassespielern ein Luxusproblem. Das heißt aber nicht, dass alle auch spielen müssen.“

Bei der Ursachenforschung stoßen fast alle auf die überraschenden Änderungen nach dem überzeugenden 4:2 im Viertelfinale. Miroslav Klose, Marco Reus und André Schürrle, die Löw gegen die Griechen erfolgreich aus dem Hut gezaubert hatte, herauszunehmen und auf Mario Gomez, den formschwachen Lukas Podolski sowie erstmals von Beginn an auf Toni Kroos zu setzen, wird als fataler Fehler eingestuft. Gegen Italien habe Löw sein zuvor hochgelobtes „Bauchgefühl“ verlassen.

„Diesmal hat er mit Gomez und Podolski die Falschen aus dem Zylinder gezogen. Die Umstellungen sind nur schwer zu verstehen“, kritisiert Harald „Toni“ Schumacher im ZDF-Morgenmagazin. Auch das Festhalten an Bastian Schweinsteiger kann der Europameister von 1980 nicht verstehen. Der lange verletzte Mittelfeldchef sei bei diesem Turnier doch „permanent seiner Form hinterhergelaufen“.

Für Karl-Heinz Förster trägt Löw die Verantwortung für manches Chaos auf dem Platz. „Wenn die Mannschaft erfolgreich spielt, dann stelle ich sie eigentlich nicht groß um. Die Italiener, Spanier und die Portugiesen haben auf maximal einer Position gewechselt“, so der einstige Weltklasseverteidiger aus Stuttgart. „Mein Eindruck war, dass man das Spiel schon vorher gewonnen und das Fell verteilt hatte. Das rächt sich oft.“ Bayern-Sportdirektor Christian Nerlinger bezeichnete das Ausscheiden als „große Enttäuschung“ für alle. „Es nützt nichts: Jetzt müssen die Wunden geleckt und nach vorne geschaut werden“, sagte er bei Sport.1.

Der frühere Italien-Legionär Hansi Müller findet, dass Italien „mutiger“ und zugleich „unheimlich zweikampfstark“ war. Es gebe im Italienischen zwei wunderschöne Wörter: „grinta“ (Biss) und „determinazione“ (Entschlossenheit). „Das habe ich bei Italien mehr gesehen als bei uns“, bemerkt der Ex-Nationalspieler. „Und was nutzt uns das ganze spielerische Potenzial, wenn es auf der Bank sitzt.“ Müller glaubt, dass Italien nun auch Titelverteidiger Spanien im Endspiel entthront: „Die Italiener werden jetzt auch Europameister, sie haben sich im Laufe des Turniers beeindruckend gesteigert.“

Versöhnliche Töne schlagen DFB-Vizepräsident Harald Strutz und Kölns Ex-Präsident Wolfgang Overath an. Strutz fordert einen sachlichen Umgang mit dem EM-Aus. „Man darf mit einer öffentlichen Diskussion jetzt nicht die Gesamtleistung der Mannschaft infrage stellen. Es wäre völlig verfehlt, jetzt in Depressionen zu verfallen. Wir reden über Fußball - da gibt es Sieger und Verlierer.“

Auch Overath will „nicht nach Fehlern suchen“: „Wir sollten stolz sein, dass wir seit 50 Jahren zu den ganz großen Fußball- Nationen in Europa gehören. Und wir sollten uns mitfreuen, dass wir auch diesmal so weit gekommen sind“, meint der ehemalige Welt- und Europameister. „Die letzten Vier bei dieser EM sind doch alle auf Augenhöhe.“