Folgt dem EM-Rausch der Kater? - Ukraine bleibt Arbeit

Kiew (dpa) - Zur Fußball-Europameisterschaft glänzte Kiew in der Pracht frischer Fassaden und in Lichtspielen im Dnjepr-Fluss. Wie ein riesiger Achat-Edelstein strahlt das von deutschen Architekten konstruierte Olympiastadion im Zentrum der Millionenmetropole.

Am größten Sportereignis in Osteuropa seit dem Ende des Kalten Krieges werde die Ukraine zwar finanziell lange knabbern, meint der Politologe Wadim Karassjow. „Aber für die Ukrainer war das Turnier eine Schule der europäischen Lebensart.“ Er sieht die EM als weiteren Schritt auf dem Weg der Ex-Sowjetrepublik zur westlichen Integration.

„Creating History Together“ - Gemeinsam Geschichte schreiben - lautete das Motto der EM. „Die massiven Kontakte zwischen Ukrainern und Ausländern werden die gegenseitige Wahrnehmung prägen“, sagt der Politologe Alexej Garan. „Ausländer sahen, dass die Ukraine ein tolerantes Land ist. Und für viele Ukrainer war die Kommunikation mit EU-Bürgern ein Kontakt mit einer anderen Welt.“ Neugierig seien Ukrainer zum „Ausländergucken“ in die Fanzonen gegangen, berichteten Medien in Kiew. Und der siebenjährige Sascha Sidorenko, der mit dem englischen Team ins Stadion einlaufen durfte, erzählte stolz im Fernsehen: „Wisst ihr was? Ich hielt die Hand von Danny Welbeck!“

Trotz vorheriger Horrormeldungen über Sextourismus, Hundemorde und Rassismus verlief die EM im Co-Gastgeberland gut. Allerdings trübten Berichte über ausgesiedelte Obdachlose, überzogene Hotelpreise und überteuerte EM-Bauprojekte das Bild. Der Oppositionspolitiker Vitali Klitschko sagte der Nachrichtenagentur dpa, er verlange eine Prüfung der geschätzten Kosten von 11,5 Milliarden Euro. Er vermutet Vetternwirtschaft bei der Auftragsvergabe. Der für die EM zuständige Vizepremier Boris Kolesnikow weist dies zurück: „Jetzt, wo die EM erfolgreich war, hören wir, dass alles korrupt war. Dabei hätte die Vorgängerregierung Timoschenko die EM fast zum Scheitern gebracht.“

Der Fall der in Haft erkrankten Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko ließ das Turnier im zweitgrößten Flächenstaat Europas zur bisher politischsten Fußball-EM werden. Er ist weiter ungeklärt. Die Führung in Kiew versäumte es, während der EM in der international kritisierten Angelegenheit ein Zeichen zu setzen. In einem nie dagewesenen Boykott mieden westliche Politiker daher die Spiele in der Ukraine. Präsident Viktor Janukowitsch, der als Timoschenkos schärfster Gegner gilt, wurde isoliert. Ironie der Geschichte: Als 2007 die Europäische Fußball-Union UEFA die EM feierlich der Ukraine zuschlug, hieß der Regierungschef in Kiew - Viktor Janukowitsch.

Viele der 46 Millionen Ukrainer fanden den EM-Boykott nicht richtig. „Wer den Boykott wählt, vergisst, dass die EM dem Volk gehört - und nicht den Politikern“, sagte etwa Eurovision-Siegerin Ruslana der dpa. Und auch Sportlegende Sergej Bubka betonte: „Wenn wir schon humanitäre Werte im Sport feiern, dann ziehe ich den Dialog vor und nicht einen Boykott.“ 2008 fand die EM in Österreich und der Schweiz statt, 2016 steigt das Turnier in Frankreich: Länder, von deren Wohlstand und internationalem Renommee die Ukraine nur träumen kann. Bürgerrechtler beklagen, dass vor allem eine kleine Schicht aus Oligarchen und gut bezahlten Staatsbeamten von der EM profitierten.

„Die Ukrainer spürten konkret, was es heißt, Europäer zu sein“, sagt der Politologe Karassjow. Vier Wochen lang war das zwischen dem europäisch geprägten Westen und dem russisch beeinflussten Osten und Süden zerrissene Land einig. Zwar trübe das frühe Ausscheiden der ukrainischen Mannschaft die sportliche Bilanz im bisher östlichsten Austragungsort einer EM-Endrunde, kommentierte die Zeitung „Segodnja“. Aber an den Feiernden in den Fanzonen gingen diese und andere Missklänge wohl vorbei. Und vermutlich würden die meisten Menschen zwischen Lwiw und Donezk noch ihren Enkeln begeistert und selbst etwas ungläubig erzählen: „Es war einmal in der Ukraine...“