Frankreich bejubelt „die Könige der Nachspielzeit“

Marseille (dpa) - Noch in der Dunkelheit der Nacht kamen die französischen „Nachspielzeit-Könige“ glücklich und hungrig in ihrem EM-Quartier in Clairefontaine an. Als es hell wurde, entfachte in Frankreich aber auch eine aufgeregte Diskussion um eine angebliche abfällige Geste von Paul Pogba.

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Die nervenaufreibenden 96 Minuten gegen Albanien gerieten beinahe in den Hintergrund. Auch der vorzeitige Einzug ins Achtelfinale. Selbst der Sport-Staatssekretär der Grande Nation wurde zu dem vermeintlichen Vorfall befragt.

Dabei wurde überhaupt nicht klar, ob es sich bei der Aktion Pogbas nach dem Treffer zum 2:0-Endstand tatsächlich um eine bewusste und absichtliche Provokation handelte. Und vor allem: Wem sie galt.

Pogba, den Trainer Didier Deschamps wie den späteren 1:0-Torschützen Antoine Griezmann zunächst auf der Bank schmoren ließ, soll eine Hand in die Beuge des anderen Armes geschlagen haben - in Frankreich gilt dieser „bras d'honneur“ als vulgäre Beschimpfung. Vermutet wurde von französischen Medien, dass die Aktion den Vertreten auf der Pressetribüne galt. Staatssekretär Thierry Braillard erklärte bei France Info, dass er selbst die Geste von Pogba nicht mitbekommen habe. Und man solle auch erstmal abwarten, bis man die Bilder davon gesehen habe.

Pogba selber erklärte die Szene am Abend in einem Statement. Er habe gewusst, dass seine Mutter und seine Brüder auf der Tribüne sitzen würden und er sei überglücklich über den Spielausgang gewesen. Deswegen habe er seine übliche Jubelpose gemacht. „Arm in die Luft, Faust erhoben. Nicht mehr und nicht weniger“, teilte er mit, um die Lage schnell wieder zu beruhigen. Denn klar ist: Sei er auch noch so klein, einen Skandal kann Frankreichs Team bei dieser EM schon gar nicht gebrauchen.

Klar ist auch, dass der erneute Sieg in den Schlussminuten allen an die Nerven ging. „Es wird langsam eine Marotte, dass wir immer am Ende zuschlagen, aber ich kann Ihnen sagen, mir wäre es lieber, wenn wir etwas früher zuschlagen könnten“, sagte Deschamps. „Es ist nichts Neues, dass wir spät treffen“, stellte Dimitri Payet lapidar fest. Sein Treffer zum Endstand in der sechsten Minuten der Nachspielzeit geht als der bisher späteste in die EM-Geschichte ein. Erst in der 90. Minute hatte der eingewechselte Griezmann die Franzosen mit der Führung gegen den tapferen, aber am Ende müden EM-Debütanten erlöst.

„Die Könige der Nachspielzeit“, titelte die „L'Équipe“ am Donnerstag. Für „Le Parisien“ sind die Franzosen „Die Meister der Zielgeraden“. Vier der insgesamt sechs Frankreich-Siege in den bisher sechs Länderspielen dieses Jahres wurden in den Schlussminuten errungen.

Schon im EM-Auftaktmatch gegen Rumänien hatte die Equipe Tricolore bis zur 89. Minuten warten müssen, ehe Payet mit einem Geniestreich das 2:1 gelang. „Wir haben Reife gezeigt, weil wir bis zum Ende geduldig geblieben sind. Diese Geduld ist mit schönen Toren belohnt worden“, sagte Torwart Hugo Lloris.

Im feinen blauen Zwirn mit weißem Hemd und Baguette in der Hand trat der Kapitän der Franzosen nach Mitternacht vor die Medien in der Mixed-Zone des Stade Vélodrome von Marseille. Auch er abgekämpft, aber glücklich. „Wir müssen diesen Wettkampfspirit beibehalten“, forderte der Keeper der Tottenham Hotspur mit Blick auf das letzte Gruppenspiel an diesem Sonntag in Lille gegen die Schweiz.

Gegen die Albaner wankten die Franzosen wie zuvor schon gegen die Rumänen. Deschamps' taktische Umstellung erwies sich als gescheitertes Experiment, obwohl Bayern-Profi Kingsley Coman bei seinem ersten EM-Spiel von Beginn an auf der rechten Seite Akzente setzen konnte.

Erst in der zweiten Halbzeit wurde es besser. „Didier Deschamps hat uns in der Pause gesagt: „Leute, das ist ein Qualifikationsspiel, wenn wir das gewinnen, dann sind wir durch, und da müsst ihr euch noch ein wenig mehr reinhängen, ein wenig mehr zeigen und aggressiver und schneller spielen, das macht den Unterschied““, verriet Coman.

Nach Schlaf war bei den Spielern erstmal nicht zu denken. Direkt nach dem Spiel ging es via Flieger und Bus-Transfer nach Clairefontaine, rund 60 Kilometer von Paris entfernt. „Ich habe Hunger“, sagte Pogba gut gelaunt, als er zusammen mit seinen Teamkollegen unter dem Applaus der Angestellten den Speisesaal betrat. Vermutlich ahnte er da noch nicht, dass er wenige Stunden später reichlich Futter für Schlagzeilen liefern würde.