Island wird zum Psycho-Test für Frankreich
Clairefontaine (dpa) - Die Tage bis zum Duell mit Island werden für Frankreichs Fußballer zum Psycho-Härtetest, ihre Fans durften sich aber erstmal über Autogramme und Selfies freuen.
Bevor die Mannschaft von Coach Didier Deschamps am Mittwoch in voller Stärke und damit auch mit dem zuletzt angeschlagenen Bayern-Profi Kingsley Coman ihr erstes öffentliches Training während der EM startete, kamen erstmal die Anhänger auf ihre Kosten. Spieler wie Fans wissen aber: Am Sonntag ist Schluss mit lustig, Verlieren ist verboten.
Ein EM-Aus im eigenen Land im Viertelfinale wäre eine Blamage, Island hin, Island her. „Es gibt nichts Schlimmeres!“, betont Christophe Dugarry, der 1998 dem immensen Druck bei der Heim-WM mit der Équipe tricolore standhielt und den Titel holte. „Das ist mit Blick auf die Motivation und die Vorbereitung schrecklich“, sagt er über die Favoritenrolle der Franzosen gegen den Immer-Noch-Außenseiter Island am Sonntag im Stade de France von Saint-Denis. Anders formuliert: Island kann nur noch mehr gewinnen, Frankreich alles, aber auch wirklich alles verlieren.
Ausgerechnet in einem der wichtigsten Spiele seit dem EM-Triumph 2000 könnte einem 22-Jährigen eine Schlüsselrolle zukommen, der bislang null Länderspiele vorzuweisen hat. Vier internationale Einsätze mit Olympique Lyon in der vergangenen Saison hat Samuel Umtiti immerhin absolviert. Ehemaliger U-20-Weltmeister ist er, allerdings liegt auch Umtitis letzte Aktion im Junioren-Dress der Franzosen einige Zeit zurück: 14. Oktober 2014 bei einer 1:4-Niederlage gegen Schweden. Und sein letztes Spiel in diesem Jahr bestritt er vor weit über einem Monat am 14. Mai in der französischen Liga.
Dennoch ist er einer, dem die Zukunft gehört. Einem Online-Bericht der „L'Équipe“ zufolge, einigten sich Lyon und der FC Barcelona am Mittwoch auf einen Wechsel. Umtiti soll bei den Katalanen einen Fünfjahresvertrag bekommen, hieß es, die Verhandlungen dauern bereits seit rund drei Wochen an.
An diesem Sonntag ist der im kamerunischen Yaoundé geborene Umtiti eine der wenigen Alternativen für die Innenverteidigung der französischen Nationalmannschaft, nachdem der ebenfalls schon vor EM-Beginn nur nachnominierte Adil Rami nach zwei Gelben Karten gesperrt ist. „Ein knallharter Sprung ins kalte Wasser eines internationalen K.o.-Spiels“, urteilte die Zeitung „Le Parisien“.
Dass Routinier und Außenverteidiger Patrice Evra am Mittwoch das Training mit dem Ball kurz vor Schluss nach einem Zusammenprall mit Paul Pogba abbrechen musste, macht die Situation nicht leichter. Bevor er mit dick bandagierter Hand anschließend nur noch die Dehnübungen mitmachen konnte, zog er sich mühevoll die Schuhe aus und schleuderte sie im Sitzen auf den Rasen.
Als hätte Deschamps nicht genug Personalprobleme: Verletzungsbedingte Absage von Real Madrids Raphael Varane und Verteidiger-Kollege Jérémy Mathieu vom FC Barcelona. Dazu fehlen unter anderem im Mittelfeld Lassana Diarra verletzt und Mathieu Valbuena als Opfer in einem Erpressungsskandal. Und ganz vorne der eigentliche Star, Karim Benzema, ebenfalls von Champions-League-Gewinner Real. Er gilt als Komplize der Erpresser von Valbuena.
Dennoch reicht das verbliebene hochkarätige Personal, um gegen die zunächst elf Auserwählten einer doch vergleichsweise verschwindend geringen Zahl isländischer Fußball-Profis anzutreten und den Weg ins Halbfinale zu ebnen. Dort hieße es nicht mehr Favorit gegen Außenseiter, in Marseille wartet entweder Weltmeister Deutschland oder Italien.
Doch daran dürfte erstmal niemand im Lager der Franzosen denken, auch wenn das Halbfinale das erklärte Mindestziel ist. Island ist der nächste, der sicherlich schwerste Gegner der Équipe tricolore in diesem Turnier. Auf einem eigenen Kanal laufen auf den Fernsehern im EM-Quartier in Clairefontaine Videos vom kommenden Kontrahenten.