Viertelfinale Angeschwollen wie die Garonne
Gedanklich setzen sich die Belgier bereits mit einem Endspiel in Paris gegen Deutschland auseinander — weil beim „Heimspiel“ in Lille gegen Wales nichts schiefgehen kann?
Toulouse/Bordeaux. Natürlich hätte der Oberaufseher Marc Wilmots einfach mal am Tag danach Müßiggang für die ganze Gefolgschaft verordnen können. Das großzügige Mannschaftshotel in Le Pian-Médoc, eine halbe Autostunde nordwestlich von Bordeaux gelegen, bietet in idyllischer Umgebung alles, was Fußballstars an Ablenkung schätzen. Zumindest für diejenigen, die exquisite Golfplätze nutzen. Trotzdem ist am Montagnachmittag das „Le Haillan“, das Trainingsgelände von Girondins Bordeaux nicht verschlossen geblieben, denn wie hatte Belgiens Nationalcoach mit weit aufgerissenen Augen bereits nach dem furiosen 4:0-Vortrag im Achtelfinale gegen Ungarn am Sonntagabend ausgerichtet: „Wir werden hart weiterarbeiten, um noch weiter zu kommen.“ Ganz unverblümt ließ sich der 47-Jährige im Stade Municipal von Toulouse sogar entlocken, was ihm ein mögliches Finale gegen Deutschland bedeuten würde. „Das würde mich nicht stören“, sagte Wilmots schelmisch grinsend, „das wäre sogar genial.“ Und vermutlich sogar „ein sehr schönes Spiel, denn wir haben eine ähnliche Spielweise.“
Wenn ein Fußballlehrer, dessen Befähigung von Teilen einer kritisch eingestellten heimischen Presse angezweifelt wird, auf einmal über finale Träume fabuliert, muss das Urvertrauen in die eigene Stärke schon extrem tief verankert sein. „Es gibt immer ein paar Miesmacher, wir haben den Deckel darauf gemacht“, meinte Wilmots kurzerhand. Aber klangen seine Akteure nicht ähnlich? „Es wird schwer, noch besser zu spielen“, erklärte Irrwisch Eden Hazard. Auf die Frage, ob die Roten Teufel eine titelreife Leistung hingelegt hätten, entgegnete der „Man of the Match“ kurz und knapp: „Ja“.
Selbst der ansonsten eher scheue Dampfmacher Kevin De Bruyne, der am morgigen Dienstag seinen 25. Geburtstag feierte, beteuerte nach einer mit Toren von Toby Alderweireld (10.), Michy Batshuayi (78.), Hazard (80.) und Yannick Carrasco (90.) gekrönten Gala: „Wir wollen ins Finale. Das wäre toll für unser Land, unsere Fans und unsere Mannschaft.“ Da hat ein Ensemble von hochbegabten Hochgeschwindigkeitskickern pünktlich vor einem Viertelfinale gegen Wales richtig Fahrt aufgenommen.
Die Spielstätte, in der dieses Luxusaufgebot erstmals seinen Status als Titelfavorit bestätigte, liegt auf einer Flussinsel der Garonne. Eine Lebensader, die sich bis nach Bordeaux zieht und sich schließlich in einer gewaltigen Mündung in den Atlantik ergießt. In der Hauptstadt der Region Aquitanien wirkt der Fluss bereits fast doppelt so mächtig wie in Toulouse, und wie mit dem südfranzösischen Strom scheint es sich auch mit belgischen Fußballern zu verhalten: Ihre Brust wird umso breiter, desto weiter es geht. Angeschwollen wie die Garonne.
Für Flamen und Wallonen ist die Frankreich-Tour nun endlich das, was sie sein sollte: ein gemeinsames Freudenfest. Fast 10.000 Anhänger, die Toulouse, die rosa Stadt („ville rose“) in ein schwarz-gelb-rotes Meer aus feiernden Menschen verwandelten, erspähen eine historische Chance, die sich aus dem Turniertableau ableitet. Wilmots tut allerdings gut daran, zunächst auf die Tatsachen zum nächsten Spiel zu blicken. Zum einen fehlt sein Abwehrchef Thomas Vermaelen gesperrt. Zum anderen gelang in der EM-Qualifikation gegen die Waliser gar kein Tor (0:0, 0:1). „Damals haben wir viele Chancen vergeben, daher habe ich vor diesem Gegner großen Respekt.“ Aber bitte wofür wird denn am Freitag im nordfranzösischen Lille gespielt, näher an der belgischen Grenze geht kaum.
„Ich weiß nicht genau, wie viele Tickets wir dort bekommen, aber selbst wenn es 100.000 wären, würde es zu wenig sein“, glaubt Wilmots. Doppelt und dreifach motiviert wird sein bester Tempofußballer sein. Hazard hatte in Toulouse nach eigenem Bekunden so aufgedreht, weil er unbedingt in Lille vorspielen wollte, wo er Teile seiner Jugend verbrachte und Profi wurde. Gerade der 25-Jährigen muss sich noch ständig gegen Vorhaltungen wehren, ihm fehle es an Ernsthaftigkeit und Effektivität. Wilmots fiel dazu noch ein schöner Satz ein: „Ein Kapitän kann nicht immer nur mit dem Mund sprechen, er muss auch mit seinen Füßen sprechen.“ Getreu dem „Kampfschwein“: „Wenn du kritisierst wird, gibt es nur eine Antwort: auf dem Platz.“ Und deshalb war am Montag schon wieder Training angesetzt.