Viertelfinale Leistungsförderndes Reizklima

Die belgische Nationalmannschaft könnte bei dieser EM vielleicht auch deshalb so weit kommen, weil kaum ein anderes Trainingscamp so sehr einem Pulverfass gleich wie „Le Haillan“.

Die belgischen Fans hoffen auf den ersten großen Titel.

Foto: Stephanie Lecocq

Haillan. Wer die belgische Nationalmannschaft in ihrem Trainingscamp von Girondins Bordeaux besucht, der blickt alsbald in lauter furchterregende Gesichter. Aus allen Himmelsrichtungen schaut den Betrachter eine Spielergruppe an, die sich eine rote Kampfbemalung unter die Augen gemalt hat. Denn das Mediencenter auf dem Trainingsgelände „Le Haillan“ — benannt nach der gleichnamigen Gemeinde — wird von Stellzäunen abgegrenzt, an denen überall dieselben Banner hängen. Nur: Die aufgereihten Jan Vertonghen, Romelu Lukaku, Radja Nainggolan, Christian Benteke und Toby Alderweireld sehen dabei nicht unbedingt wie belgische Fußballhelden sondern eher wie neuseeländische Rugbystars aus. „#ALLINRED“, Alles in Rot, heißt die Kampagne, die ein Biersponsor initiiert hat.

Botschaft: entschlossen zu allem, geeint für eines. Nämlich den ersten großen Titel für die Roten Teufel zu holen. „Wir sind nach Frankreich gekommen, um dieses Turnier zu gewinnen“, hat Alderweireld extra vor dem anstehenden Viertelfinale gegen Wales (Freitag 21 Uhr) ausgerichtet. Der tapfere Verteidiger der Tottenham Hotspurs stand bislang nicht in Verdacht, für großspurige Ansagen zu stehen, und als der 27-Jährige einige zweifelnde Blicke unter den Pressevertretern bemerkte, rechtfertigte er sich mit der Anmerkung: „Man braucht doch ein Ziel.“ Oder wie sein Nationaltrainer Marc Wilmots erklärte: „Wenn man im Viertelfinale steht, will man das Maximum erreichen.“ Für den gerade nach Bordeaux gereisten einstigen deutschen EM-Helden Dieter Müller befragt, der ja Anfang der 80er Jahre in der Blütezeit das Girondins-Trikot trug, sind die Belgier aufgrund ihrer spielerischen Klasse ein sicherer Endspieltipp. Dafür spricht zum einen das günstige Tableau. Zum anderen könnte auch der Kampfmodus helfen, in dem sich dieses Nationalteams nicht nur wegen der Plakatierung fortwährend befindet.

Denn welcher Favorit übt gleich neben einem Pulverfass? Nichts anderes ist die weiße Zeltanlage neben dem mit grünen Sichtblenden umhängten Trainingsplatz. Selbst bei geringer Sonneneinstrahlung entsteht hier eine Art Dampfsauna, in der die eigentlichen Protagonisten sich gerne mit dem medialen Begleittross reiben. So schnell Wilmots in seinen täglichen Ausführungen vom Französischen ins Flämische wechselt, so schwankend wirkt die Stimmungslage. Mitunter genügt ein falsches Wort, um eine flammende Debatte auf dem feuerroten Kunstfaserteppich zu entfachen.

Im Pressegespräch mit Edeljoker Yannick Carrasco ging es bald einzig und allein warum, warum das Verhältnis zu den Journalisten so belastet ist. „Weil ihr über etwas schreibt und gar nicht die Details kennt“, giftete der 22-Jährige mit erhobenen Augenbrauen. Die Debatte driftete so weit ab, dass verwunderte, warum Pressechef Pierre Cornez nicht viel früher die letzten Fragen erbat. Trotz einer historischen Chance, 36 Jahre nach dem verlorenen EM-Finale gegen Deutschland wieder ein Endspiel zu erreichen, scheint in diesem speziellen belgischen Binnenverhältnis weiter einiges nicht zu stimmen.

Immerhin: Wilmots trug seine Ausführungen zwar immer noch wie aus einem Schnellfeuergewehr vor, aber er verbat sich persönliche Zurechtweisungen. Nicht aber die generelle Belehrung, bitte mal das Erreichte zu würdigen. „Wir haben zweimal eine Qualifikationsgruppe gewonnen, wir sind in vier Jahren bei WM und EM in ein Viertelfinale gekommen: Wir sind auf einem guten Weg.“ Der 47-Jährige hätte auch sagen können: Dann müssten die Kritiker doch mal schweigen. Zumal sich in der Heimat der Flamen und Wallonen gerade die Massen für eine gewaltige Pilgerfahrt nach Lille sammeln.

Das neu erbaute Stade Pierre-Mauroy mit seinen 50.000 Plätzen hätte auch doppelt so groß sein können, es hätte für den Ansturm nicht ausgereicht. Aktuellste Schätzungen gehen davon aus, dass sich zwischen 150.000 und 200.000 Anhänger am Freitag ins grenznahe Lille begeben. Vor allem vom Künstler Eden Hazard, beim ortsansässigen OSC Lille ausgebildet, wird die nächste Gala erwartet, obwohl der Techniker wegen Oberschenkelproblemen mit dem Training pausiert hat. „Die Physios arbeiten mit ihm. Er kann am Donnerstag wieder mitmachen und ist am Freitag einsatzbereit“, erklärte Wilmots. Dass Abwehrchef Thomas Vermaelen gesperrt fehle, sei ebenfalls kein Problem. Im Gegenteil: „Ihm tut alles weh, alles ist steif. Er kann sich gar nicht bewegen und kann die Pause brauchen.“ Im „Le Haillan“, dem einzigartigen Reizklima dieses EM-Viertelfinalisten, kann noch etwas Großes gedeihen, sollte das wohl heißen.