„Leere“ im DFB-Team - Löw übt Selbstkritik
Nach dem Halbfinal-Schock wollten die enttäuschten Spieler nur noch weg vom Ort des Schreckens. Wieder einmal setzte Italien das Stoppzeichen. Auch am Tag danach hielt die Enttäuschung an. Joachim Löw übernahm auf dem Rückflug die Verantwortung für das EM-Aus.
Frankfurt/Warschau (dpa) - Über den Wolken zwischen Warschau und Frankfurt meldete sich Joachim Löw nochmals zu Wort und nahm den bitteren EM-K.o. mit auf seine Kappe. „Klar wird jetzt viel über die Aufstellung diskutiert. Diese Verantwortung übernehme ich auch“, sagte ein müder, aber nicht entmutigter Bundestrainer am Freitag im DFB-Sonderflieger. Gleichzeitig stellte der 52-Jährige klar, dass die Halbfinal-Pleite gegen Angstgegner Italien keinerlei Auswirkung auf seinen Chef-Job mindestens bis zur WM 2014 in Brasilien haben werde.
„Solche Dinge wie Vertrag sind mir jetzt nicht durch den Kopf gegangen. Ein Trainer muss immer für eine Niederlage die Verantwortung übernehmen, klar. Dennoch denke ich, dass wir alle ein gutes Turnier gespielt haben“, betonte Löw bei einer improvisierten Pressekonferenz im Flugzeuggang. Und als der recht unsanft gelandete Höhenflieger Löw gefragt wurde, ob er denn am 15. August zum Start in die neue Saison gegen Argentinien wieder als Chef dabei sein werde, antwortete er sichtbar irritiert: „Jetzt so eine Frage zu stellen, das finde ich jetzt, ja...“ Da war Löw fast sprachlos.
Direkt nach dem plötzlichen K.o. der deutschen Titelaspiranten hatte sich nur „Leere, Stille, Enttäuschung“ verbreitet. „Wenn man den Titel nicht holt, wird gefragt, wofür war's?“, beschrieb Teammanager Oliver Bierhoff die Grundstimmung im deutschen Team, das ausgerechnet im Halbfinale einer zuvor so euphorisch abgelaufenen Fußball-Europameisterschaft völlig aus der Spur geraten war.
Auch Löw, dessen zuvor so hoch gepriesene EM-Magie gegen Italien verflogen war, fiel eine Analyse im Warschauer Nationalstadion noch schwer. Mit seiner mehr auf den Gegner als auf die eigenen Offensivqualitäten ausgerichteten Taktik lag der Tüftler dieses Mal daneben - ein folgenschwerer Irrtum.
„Im Nachhinein hätten wir dieses oder jenes machen können“, meinte Löw auf die Frage, ob er bei seinen erneuten Personal-Überraschungen mit Toni Kroos als zusätzlicher Kraft zur Neutralisierung der italienischen Mittelfeldzentrale einen Tick zu weit gegangen sei. „Wir waren schon auch relativ gut im Spiel und hatten mit Mesut Özil und Toni Kroos zwei zentrale offensive Spieler, die auch praktisch als zwei Zehner agierten“, verteidigte Löw am Freitag nochmals vorsichtig seine Idee. „Das ist nicht zu hundert Prozent aufgegangen. Die Tore sind aber aus anderen Gründen entstanden“, schloss er an.
DFB-Chef Wolfgang Niersbach hob bei seiner Mitternachtsansprache im Teamhotel dennoch Löws enormen Verdienst für die „super EM“ des deutschen Teams hervor. „Der Weg dieser Mannschaft ist noch lange nicht zu Ende“, betonte der DFB-Präsident - einen Stimmungsumschwung konnten auch die aufmunternden Worte nicht auslösen.
Löws Personal erlaubte sich zum Schrecken von 28 Millionen TV-Zuschauern in der Heimat ausgerechnet im K.o.-Spiel gegen die cleveren und abgezockten Italiener Aussetzer, die man bei den vier vorangegangenen EM-Siegen so nicht gesehen hatte. „Wir haben Fehler gemacht, die man auf diesem Niveau nicht machen darf“, räumte Kapitän Philipp Lahm ein, der selbst vor dem zweiten Treffer von Italiens schillerndem Stürmerstar Mario Balotelli schwer patzte.
Der Fluch, noch nie ein Pflichtspiel gegen die Azzurri gewonnen zu haben, hält an. Das Elfmetertor von Mesut Özil in der Nachspielzeit kam zu spät. Eine Grundsatzdiskussion über die Ausrichtung und Entwicklung der Nationalelf will Löw nicht zulassen. „Grundsätzlich hatten wir zwei sehr gute Jahre. Die Mannschaft hat sich hervorragend entwickelt“, erklärte er: „Es gibt keinen Grund, etwas anzuzweifeln.“
Alle seien aktuell enttäuscht. „Aber im Fußball geht es weiter. Alle werden die Motivation finden, sich neue Ziele zu setzen“, glaubt der Bundestrainer, der anders als seine Vorgänger Helmut Schön, Franz Beckenbauer und Berti Vogts sein drittes Turnier nicht krönen konnte.
Mehr noch als bei der EURO 2008 und der WM 2010 bleibt bei Fans, Experten und den Spielern die große Unzufriedenheit, dass in einem entscheidenden Moment die eigenen Stärken nicht auf den Platz gebracht wurden. „Das ganz große Ziel haben wir nicht erreicht. Bei einem Turnier gibt es nur den Sieger“, haderte der gebürtige Pole Lukas Podolski mit der Ausbeute bei seinem Heimturnier. Seine Generation, der auch Lahm, Schweinsteiger, Miroslav Klose und Per Mertesacker angehören, hat nicht mehr so viele Titelchancen.
Löw und die Spieler hatten mit ihrem Optimismus, mit ihrem großen Selbstbewusstsein und vor allem mit den Vorrundensiegen gegen die Mitfavoriten Portugal und Holland dafür gesorgt, dass die Absturzhöhe einen Schritt vor dem Endspiel sehr hoch war. Zwar sei das Halbfinale „kein Dreck“, bemerkte Franz Beckenbauer in seiner bekannten Art, schloss aber klar an: „Das war nicht die wahre deutsche Elf bei dieser EM. Irgendetwas fehlt uns noch.“
Das herauszufinden, wird die wichtigste Aufgabe für Löw und sein akribisch arbeitendes Team auf dem Weg zur WM 2014 in Brasilien sein. Der Bundestrainer will den „Durchlauf“ im DFB-Team weiter fördern. Der 52-Jährige hat schon angekündigt, dass noch jüngere Spieler noch mehr Druck auf die Etablierten machen sollen. Doch gerade die Italiener haben Löw gezeigt, dass Erfahrung und Cleverness in den Alles-oder-nichts-Spielen auf höchstem Niveau auch den Ausschlag geben können. Der Bundestrainer wird seine Schlussfolgerungen ziehen.