Einwurf Marcel Reif: Deshalb hat Portugal die EM gewonnen

Portugal Europameister — das ist die passende Pointe zu diesem Turnier. Es hat die Mannschaft den Titel gewonnen, die am besten praktiziert hat, was viele Konkurrenten auch versucht haben: Fußball zu verhindern.

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Als die Portugiesen in das Turnier starteten, sind sie durch die Gegend geirrt, die Ergebnisse stimmten nicht, und wenn sie nicht gegen die B-Elf des zweitklassigen Ungarn dank Ronaldo ein 3:3 erzwungen hätten und so sieglos (!) ins Achtelfinale gekommen wären, hätten sie die zweite Hälfte des Turniers zu Hause am Fernseher verfolgt. Jetzt gehen wir noch einen großen Schritt zurück in die Zeit, als wir Fußball-Ästheten regelmäßig die Portugiesen erst bewunderten — und dann bemitleideten. Sie schenkten uns schöne Spiele und gewannen: nichts. Eusébio und Coluna, Rui Costa und Luis Figo, Maniche und Nuno Gomes, Hélder Postiga und Nani — titellose Künstler. Lieber schön verlieren als hässlich gewinnen, das war die Hymne.

Traumatisch wurde es 2004 bei der EM im eigenen Land. Sie verloren zweimal gegen die Holzfüßer aus Griechenland von Otto Rehhagel, dazwischen spielten sie wunderschön. Cristiano Ronaldo war damals dabei. Und vielleicht hat ihn und seine Kollegen dieser knorrige Fernando Santos an damals erinnert. Vielleicht hat er seinen Jungs gesagt: Ihr habt gesehen, was wir nicht können. Ich sage euch, was wir können: Fußball verhindern. Und: Wollt ihr zur Abwechslung mal mit einem Pokal nach Hause kommen? Also haben sie ihre Identität aufgegeben und ihren Stil verraten.

Ich habe ihnen das übel genommen. Vor dem Finale war ich mir sicher: Die Franzosen machen jetzt den letzten Schritt. Sie fingen ganz prima an, aber dann verletzte sich Ronaldo. Eine Viertelstunde lang waren die Portugiesen damit beschäftigt, bei ihm nachzufragen, ob es denn noch gehe. Denn sie wussten: Wenn er jetzt geht, können wir gleich mitgehen. Dann wurde er runtergetragen, und es gab — kleiner Einschub — einen dieser wunderbaren Momente, die mich über das oft jämmerliche Niveau hinweggetröstet haben: Die französischen Zuschauer spendeten Ronaldo Applaus. Didier Deschamps ging zu Ronaldo und gab ihm einen Klaps — mehr nicht, aber diese wunderbare, echte Geste genügte: Da hat ein großer Ex-Fußballer gespürt, welches Unheil einem großen Fußballer gerade zugestoßen ist.

Das Ausscheiden von Ronaldo hat das Finale entschieden, auf ganz eigentümliche Weise, und doch typisch für das Turnier. Die Portugiesen mussten nun erst recht tun, was sie ohnehin vorhatten: Fußball verhindern. Da kann es auch kein Mäkeln mehr geben. Sie überwanden den Schmerz, sie zelebrierten nicht ihre Traurigkeit. Nein, sie verteidigten klug und strukturiert. Plötzlich merkten sie: Wir müssen dieses Spiel ja gar nicht verlieren!

Und die Franzosen? Nach Ronaldos Ausscheiden war ihre Favoritenstellung noch gewachsen. Dann vergaben sie Chancen, und da war es wieder: das Gefühl, etwas Großes verlieren zu können. Damit konnte kein Team bei diesem Turnier umgehen. Die Franzosen verloren erst den Glauben und dann das Spiel. So gewannen die Portugiesen ein Finale, dass sie eigentlich nicht gewinnen konnten. Deshalb habe ich am Ende des mittelmäßigen Turniers meinen Frieden mit dieser EM gemacht — und mit den Portugiesen.