#Euro2016 Mesut Özil - der auffallend Unauffällige

An Mesut Özil scheiden sich die Geister. Bei vielen Fans steht er wieder mal in der Kritik, Trainer aber lieben ihn. Warum da auch Joachim Löw keine Ausnahme macht.

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Paris. Mesut Özil hat Glück. Er musste sich bei dieser Europameisterschaft noch nicht rechtfertigen, warum er die deutsche Nationalhymne nicht mitsingt. Das immerhin ist ihm bislang erspart geblieben. Wann immer es bei Turnieren im deutschen Spiel nicht rundläuft, werden die Diskussionen oftmals nicht am taktischen Fehlverhalten oder persönlichen Formschwankungen festgemacht, sondern an der Einstellung. Die sieht der Stammtisch schon beim Abspielen der Hymne. Wird sie so inbrünstig geröhrt wie von den Italienern, dann stimmt sie. Bleiben die Lippen geschlossen, läuft irgendetwas schief. Und weil Özil dann anschließend mit so viel Elan über den Platz läuft, als müsste er mit seiner Freundin samstags bei Ikea Topfpflanzen einkaufen, ist sicher: Der Mann ist nicht voll bei der Sache.

Das sieht auch der ein oder andere TV-Experte so, wie beispielsweise Mehmet Scholl: „Die Teilnahmslosigkeit, auch diese Körpersprache von Özil — das fällt natürlich auch den Abwehrspielern hinten auf. Die sagen: Wir rödeln, wir kommen von einer schwierigen Situation in die andere und vorne schaut man, dass man ein bisschen Fußball spielt. Das funktioniert so nicht“ schimpfte er in der ARD. Özil reagierte kühl. Aussagen von Außenstehenden würden ihn nicht interessieren, sagte er der Bild. Und überhaupt: „Wenn ein Ex-Spieler oder sonst wer in die Schlagzeilen will — das prallt an mir ab.“ Für ihn zähle einzig die Meinung seines Trainers.

Özil macht es dem Fußballfan schwer. Der sieht gerne Kabinettstückchen und in den Winkel gesetzte Volleyschüsse. Wenn das nicht gelingt, soll bitte das Trikot nach dem Abpfiff dreckig sein.

Özil kann damit nicht aufwarten. Der 27-Jährige spielt reichlich unspektakulär für einen Regisseur. Obwohl er unlängst auch im defensiven Mittelfeld eingesetzt wurde, kann er der heldenhaften Grätsche wenig abgewinnen. Sein Spiel ist von großer Selbstverständlichkeit geprägt. Ballannahme, Pass, freilaufen. Dass ihm kaum einmal die Kugel vom Fuß springt oder einer seiner Pässe misslingt, fällt nicht auf.

Ein Problem Özils ist, dass ihm die Anstrengung auf dem Platz nicht anzumerken ist. Das hat er mit Toni Kroos gemein, dem ein ebenso unterkühltes Temperament wie Özil zu eigen ist. Mit Kroos haben die deutschen Fans ebenfalls lange Zeit gefremdelt. Verstanden nicht, wie Real Madrid auf die Idee kam, sich ausgerechnet den Traber aus dem Mittelfeld des FC Bayern zu holen.

Mittlerweile dirigiert Kroos das Spiel des Champions-League-Siegers, ist dort unverzichtbar. Wie er mit kleinen Körpertäuschungen und großartigen Flügelwechseln das Spiel der Nationalmannschaft anleitet, findet nun auch zu Hause Bewunderung.

So weit ist Özil noch nicht. Auch, weil seine Auftritte im Nationaltrikot bei dieser EM bisher blass sind. Kreativität aber lässt sich nur schwer erzwingen, zumal es die vielbeinigen Abwehrreihen nicht nur ihm besonders schwer machen. Mit Zlatan Ibrahimovic und Cristiano Ronaldo sind zwei absolute Ausnahmekönner bislang ohne bemerkenswerte Aktionen (außer einem verschossenen Elfmeter) geblieben. Es ist unwahrscheinlich, dass sie sich alle gleichzeitig im Leistungstief befinden. Das Mitwirken vieler „kleinerer“ Fußballnationen hat das Spektakel nicht zwingend gesteigert.

Die Kunst des Verteidigens wird mittlerweile von vielen beherrscht. Eine Kunst, die in Italien viele Anhänger hat, hierzulande aber im Schatten der großen Expressionisten steht. Noch ist es vielen Trainern nicht gelungen, ihren Mannschaften genügend Lösungswege aufzuzeigen, wie die Abwehrreihen auszuspielen sind. Das wird sich im weiteren Turnierverlauf ändern, spätestens ab dem Viertelfinale, wenn die arrivierten Mannschaften wieder unter sich sind und sich nicht mit Fünfer- und Sechserketten herumplagen müssen.

Heute allerdings stehen die Deutschen nochmals vor einer derartigen Aufgabe. Sie benötigen wohl einen Sieg gegen Nordirland — möglicherweise sogar einen hohen — um als Gruppensieger ins Achtelfinale einzuziehen. Dabei sind sie auch auf Özil angewiesen. In seinen bisherigen 75 Länderspielen hat er 35 Tore vorbereitet. Kein anderer deutscher Akteur kommt auf eine derartige Quote. Werden seine 19 Tore dazugerechnet, ist Özil in drei von vier Spielen an einem Tor beteiligt.

Özil hatte einen Stammplatz bei José Mourinho, er ist bei Joachim Löw und Arsene Wenger gesetzt. Sie alle lassen einen unterschiedlichen Fußball spielen — auf Özil aber wollte keiner von ihnen verzichten. Weil er Fähigkeiten hat, die selten auf dem Feld zu finden sind. Und manch einer sieht sie nicht einmal.