Ein Tor ändert alles Nach Kroos' Kunststück „durchs Turnier reiten“

Watutinki (dpa) - In Endlosschleife flimmerte das Kroos-artige Tor auf dem Nachtflug nach Moskau und dem anschließenden Familientag über die Smartphones der mit Glückshormonen gefluteten deutschen Spieler.

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Nach der größten Explosion der Gefühle seit Mario Götzes Siegtor im WM-Finale 2014 konnte die Dimension des erlösenden Geniestreiches zum 2:1 von Toni Kroos gegen Schweden niemand spontan abschätzen. „Ich werde mir das mindestens tausendmal anschauen“, sagte Mats Hummels.

Fest steht: Titelverteidiger Deutschland ist plötzlich drin im Turnier, auch wenn am Mittwoch (16.00 Uhr) in Kasan gegen Südkorea der historische Vorrunden-K.o. bei einer WM immer noch möglich ist. Aber wem kommen nach dem aufwühlendem Fußball-Abend in Sotschi mit dem finalen Höhepunkt des Kunstschusses von Kroos in der fünften Minute der Nachspielzeit und in Unterzahl (!) noch negative Gedanken?

Ein Sieg mit mindestens zwei Toren Unterschied gegen die punktlosen Asiaten reicht definitiv zum Einzug in das Achtelfinale, in dem es nach aktuellem Tabellenstand zum Duell mit Rekordchampion Brasilien käme. „So weit ist es noch nicht. Auch Serbien und die Schweiz haben in der anderen Gruppe noch gute Chancen“, bemerkte Löw gelassen.

Timo Werner sprach das Wort zum Sonntag: „Das muss der Wendepunkt gewesen sein. Wenn wir die Steilvorlage jetzt nicht annehmen und damit durchs Turnier reiten, dann hätte das ganze Spiel nichts gebracht.“ Der WM-Neuling aus Leipzig war neben 1:1-Schütze Marco Reus und natürlich Matchwinner Kroos eine der prägenden Figuren im Fischt-Stadion. Ekstase beim Torjubel, Tumulte nach Spielschluss mit den frustrierten Schweden, vor allem aber enorme Erleichterung prägten die Szenerie am Schwarzen Meer, wo der Weltmeister nach Kroos' Patzer vorm 0:1 von Ola Toivonen kurz vor dem Untergang war.

Auch Joachim Löw, der in seinem 100. Pflichtspiel als Bundestrainer (79 Siege) entscheidungsfreudig den Weltmeister-Bonus außer Kraft gesetzt hatte, indem er Mesut Özil und Sami Khedira durch Reus und den früh verletzten Sebastian Rudy (Nasenbeinbruch) ersetzte, war geschafft. Bis zur letzten Sekunde gab auch er in der Coaching Zone alles. Mit seinen in der Muckibude auffällig gestählten Oberarmen trieb er seine Spieler selbst nach der Gelb-Roten Karte für Jérôme Boateng in der 82. Spielminute mit totalem Risiko weiter vorwärts.

Die Harakiri-Taktik ging auf. „Es war ein Krimi voller Emotionen. Die sind hochgekocht. Es war bis zum Schluss Dramatik pur“, sagte Löw: „Es ist das Schöne am Fußball, dass es solche Spiele gibt.“

Und das Drehbuch sah vor, dass Kroos seinem voller Hingabe anrennenden Team und den 27 Millionen TV-Zuschauern in Deutschland ein Happy End schenkte. „Dass Toni den entscheidenden Freistoß versenkt, freut mich für ihn. Das hat er sich verdient“, lobte Löw seinen Frontmann. Kroos musste das 0:1 „auf meine Kappe nehmen“, zeigte dann aber die Reaktion eines Weltklassespielers.

„Man muss dann auch die Eier haben, die zweite Halbzeit so zu spielen“, sagte der 28 Jahre alte Weltmeister. „So ein Fehler macht dein Spiel kaputt. Oder du versuchst, alles rauszuhauen, anzutreiben, das habe ich versucht.“ Der späte Lohn war das wunderschöne Siegtor.

Kroos spielte den Ball kurz angetippt zu Reus und schlenzte ihn dann aus spitzem Winkel ins Tor. Selbst der herausragend haltende Robin Olsen war machtlos. Beim Champions-League-Sieger Real Madrid sind Freistöße das unantastbare Hoheitsgebiet von Cristiano Ronaldo. Im DFB-Team aber ist Kroos der Chef. „Mit seiner Schusstechnik hat er es nicht schlecht gemacht“, kommentierte Ballstopper Reus grinsend.

Ein Tor ändert alles. „Das war ein Signal, das hat die Mannschaft gebraucht“, meinte Löw. „Es war pure Erleichterung in der Kabine“, berichtete Werner. „Jeder, der reingekommen ist, hat geschrien. Mir sind auch auf dem Platz fast schon die Tränen gekommen beim 2:1, weil es einfach so geil war.“ Löw handelte nach dem Fehlstart gegen Mexiko konsequent. Auch im Spiel machte er viel richtig, wie die Hereinnahme von Mario Gomez und die Versetzung von Turbostürmer Werner auf den linken Flügel. Der Leipziger legte Reus das 1:1 auf. Und mit seinem Tempo und seinem Zug zum Tor erzwang der den finalen Freistoß.

„Wir dürfen nicht in Panik verfallen“, beschwor Löw seine Spieler in der Halbzeit. Da war der Weltmeister raus aus der WM. Für Löw war es „ein Sieg der Moral“. Es war aber auch einer mit Glück und weiterhin bestehenden Mängeln. „Natürlich haben wir viel Luft nach oben“, sagte Reus. Löw sucht weiter nach der idealen Turnierformation.

Am Sonntag gab er seinen 23 Akteuren zunächst bis auf eine „leichte Regenerationseinheit“ am frühen Abend frei. Familien und Verwandte durften auf Besuch kommen. Ausschlafen und Erholen standen nach der Rückkehr im Morgengrauen auf dem Programm. Am Montag will Löw einen „Status quo erheben“. Boateng ist gegen Südkorea gesperrt. Mats Hummels dürfte nach Halswirbel-Blessur zurückkehren. Rudy droht auszufallen. Reus hatte Krämpfe. Frische Kräfte könnten nötig sein.

„Es ist logisch, dass bei einer WM nicht immer eine Mannschaft spielen kann“, betonte der Bundestrainer: „Wir haben Alternativen, so ist auch der Kader ausgerichtet.“ Nach dem Mexiko-Desaster soll der Schweden-Kracher das Erweckungserlebnis in Russland gewesen sein.

„Jetzt sind wir im Turnier“, sagte Zuschauer Khedira. „Wir waren sehr, sehr nah am Fast-Ausscheiden. So ein später Sieg kann bei jedem etwas hervorholen, was einen Push gibt für die WM“, sagte Kroos. Der Fokus richtet sich nun auf Südkorea. „Da müssen wir genauso emotional spielen und energiegeladen“, sprach Reus ein wahres Schlusswort.