Vor dem Spiel gegen die Slowakei „So etwas gehört in Lille nicht zum alltäglichen Leben“

„Complet — full“, sagt das Schild an der Eingangstür eines kleinen Hotels im Zentrum von Lille. Das Gastgewerbe kann sich während der EM nicht über mangelnde Besucherzahlen beklagen. Den zweiten Besuch der deutschen Fans erwartet die Stadt entspannt — auch wenn den Deutschen gegenüber eine gewisse Grundskepsis herrscht.

Französische Polizisten bei einem Einsatz in Lille am 15. Juni.

Foto: Marius Becker

Lille. „Deutsche Fans sind für uns immer ein bisschen beunruhigend“, sagt Stéphanie Fasquelle. „Sie treten in einer großen Masse auf, trinken viel. Es ist eine komische Atmosphäre“, findet die 41-jährige Journalistin. „Die Iren haben diese Woche sicherlich genauso viel getrunken, aber sie haben auch viel gesungen, eine große Party veranstaltet und viel Spaß gehabt. Die Deutschen sind etwas aggressiver, lachen nicht so viel.“

Den Iren eilt der Ruf voraus, bei all ihren Eskapaden immer noch charmant zu sein. Wenn sie in großer Zahl zusammenkommen, schießen sie gerne Fußbälle in die Luft — oder gegen Hotelfenster, in der Hoffnung, dass ein Gast beim Zielschießen mitspielt und sein Fenster öffnet. Ein Teil der Leuchtreklame eines Hotels am Grand Place in Lille ging dabei am Mittwoch zu Bruch. Die Feuerwehr rückte am Donnerstag mit einer Drehleiter zur Erstversorgung der Glasreste an, aber das nimmt den Iren kaum jemand krumm. Sie werden fast schon dafür geliebt, wenn sie ein Autodach verbeulen, es mit gezieltem Klopfen wieder herrichten und schuldbewusst ein paar Geldscheine in die Türdichtung stecken.

„Wir sind nur für die irischen Fans hier“, haben zwei deutsche EM-Touristen aus Hamburg und vom Niederrhein auf ihrem T-Shirt und einer Deutschlandfahne stehen. Sie posieren fürs Foto gerne mit zwei irischen Jungen, von denen einer schnell noch einen Deutschland-Schal umgehängt bekommt. Über diese Feierfreude müsse viel mehr berichtet werden als über den Ärger, den wenige verursachen, finden sie. Das einzige, was die Iren hinterlassen, sind jede Menge leere Bier- und Weinflaschen auf dem zentralen Platz. „Aber das war es dann auch schon. Sie machen keinen Ärger“, sagt Fasquelle und um nicht falsch verstanden zu werden fügt sie an: „Ich sage nicht, dass die Deutschen Ärger suchen. Aber zusammen mit den russischen und englischen Fans war das zuviel für Lille.“

Lille sei eine vergleichsweise kleine Stadt, sagt die 41-Jährige, die hier seit 16 Jahren als Journalistin arbeitet. Am 12. Juni hatte Deutschland in der 200000-Einwohnerstadt nahe der belgischen Grenze zum Auftakt gegen die Ukraine gespielt. Die meisten deutschen Fans und ihr gemeinsamer Marsch zum Stadion seien friedlich gewesen, betont Daniel Theweleit. Der Journalist verbringt die EM in Lille und reist zudem zu Spielen nach Lens. Bei allen friedlichen Fußballfans fielen ihm in Bahnhofsnähe allerdings auch „unangenehme Figuren“ auf. „Einige waren für mich sehr eindeutig rechter Gesinnung und allzeit bereit, sich auf eine Auseinandersetzung einzulassen, aber ihnen haben die Gegner gefehlt. Wenn da ein paar Ukrainer gewesen wären, die ebenfalls Streit gesucht hätten, hätte es gekracht“, vermutet der Kölner. „Die Polizei war mit gepanzerten Fahrzeugen im Einsatz. Das ist komplett ungewohnt in Lille“, sagt Fasquelle, „so etwas gehört in Lille nicht zum alltäglichen Leben“.

Umso größer war die Sorge vor dem Doppelspieltag der Russen am 15. Juni in Lille gegen die Slowakei und der Engländer gegen Wales einen Tag später im nahen Lens. Chaoten aus beiden Ländern waren zum Turnierauftakt in Marseille auffällig geworden. „Wie bewältigen wir die Hooligans?“ fragte die Zeitung „La Voix du Nord“ am 14. Juni. „Spiele unter Spannung“ titelte sie zwei Tage später. In der Nacht zuvor hatten Engländer und Russen mit Ordnungskräften Katz und Maus in der Altstadt gespielt. Die nächtliche Bilanz bis 1.15 Uhr: 37 Verhaftungen und 50 Leichtverletzte, von denen 16 ins Krankenhaus kamen. Sechs Russen, die schon in Marseille auffällig geworden waren, wurden laut einer Mitteilung der Behörden festgenommen.

Insgesamt seien die Auseinandersetzungen aber schnell beendet gewesen, hat Daniel Theweleit beobachtet. „Am Ende gab es keine Beschädigungen an öffentlichem Eigentum oder Läden, aber die Stadt war auf das Schlimmste vorbereitet“, sagt Stéphanie Fasquelle. Das schreiben sie in Lille auch den Präventionsmaßnahmen zu. „Es ging darum, zu verhindern, was hätte passieren können“, fasst die Journalistin die Maßnahmen zusammen. Am Spieltag in Lille blieben Schulen geschlossen. Michel Lalande, der Präfekt der Region Nord, verfügte unter anderem in seinem Zuständigkeitsgebiet, dass Restaurants zwischen dem 14. Juni, 18 Uhr, und dem 17. Juni, 6 Uhr, nur stationär Alkohol ausschenken durften. Der Verkauf von alkoholischen Getränken zum Mitnehmen war untersagt. Gleiches galt für Läden. Ein Lebensmittelgeschäft in Lille, das sich nicht an die Vorgaben hielt, wurde mit einer Zwangsschließung belegt.

„Unsere Stammkunden sind beim ersten Spiel nicht gekommen und sie werden auch heute nicht kommen. Wenn wir kein Bier verkaufen können, haben wir keinen Grund, unseren Laden zu öffnen“, zitiert die „La Voix du Nord“ einen Kiosk-Betreiber aus Lens. „Einige haben ihre Geschäfte und Restaurants freiwillig früher geschlossen und verrammelt“, sagt Fasquelle, „und sie sind auch jetzt wieder darauf vorbereitet. Auch wenn das für sie wirtschaftliche Einbußen bedeutet.“ Über diese Themen sprechen die Restaurantbetreiber nicht gerne. Sein Chef rede nicht mit Journalisten darüber, sagt ein Kellner in einer Gaststätte nahe dem Grand Place. In der Nacht zuvor, als die Iren feierten, stand Sicherheitspersonal vor einigen Lokalen. Dabei freut sich die Tourismusbranche grundsätzlich über die EM-Reisenden.

Für die Nacht von Samstag auf Sonntag haben nur noch fünf Hotels jeweils zwei bis vier Zimmern im Angebot. „aber sie sind sehr teuer“, sagt die Mitarbeiterin der Tourist-Information am Donnerstagmittag. Ab 200 Euro müssen Gäste für die Übernachtung einplanen. Für die Nacht nach dem Spiel verzeichnet die Tourist-Information noch rund 20 Zimmer in drei Hotels. Dabei sind insgesamt 55 Herbergen an das Auskunftssystem angeschlossen. „Wir sind mehr als glücklich, dass so viele Gäste kommen“, hat eine Sprecherin zum EM-Start erklärt. „Unser Indikator ist, dass die Hotels in Lille und Umgebung voll sind.“ Das freut die Touristiker.

Das kommende Wochenende dürfte auch im nahen Deutschland wieder die Reisefreude erhöhen. Das Achtelfinale der DFB-Elf gegen die Slowakei wird genau wie der Auftakt gegen die Ukraine an einem Sonntag ausgetragen. Denkbar ist, dass bis zu 15000 Menschen aus der Bundesrepublik anreisen — dazu zählen auch Fans der Slowakei, die ihre Tickets in Deutschland gekauft haben. Eine ähnliche Zahl hatte die Reise nach Lille zum deutschen Auftaktspiel auf sich genommen. Die überwältigende Mehrheit von ihnen habe Karten für das Spiel gehabt, sagt Bülent Akşen aus dem Fachbereich Fanbelange des DFB. Nur für den reinen EM-Flair ohne Stadionerlebnis nähmen Fans die Anreise selten auf sich.

Ab Samstag steht Akşen, der Leiter der deutschen Fanbotschaft in Frankreich, mit seinen Kollegen für Fragen in einem Container am Place du theatre zur Verfügung. Am Montag nach dem Spiel ermöglicht eine zweistündige Präsenz, die letzten Nachwehen des Spieltags abzuarbeiten. „Wir hoffen natürlich, dass wir einen ähnlich guten Gesamteindruck wie beim letzten Mal hinterlassen“, sagt Akşen. Es sei eine kleine Gruppe gewesen, die aus dem Rahmen gefallen sei, aber den Fokus auf sich gezogen habe. Was auf Lille zukommt, ist für Daniel Theweleit noch „komplett unberechenbar, und ich glaube, selbst die Polizei tappt da noch ein bisschen im Dunkeln“. Unzählige Grenzübergänge für viele Stunden zu überwachen — das wird einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Insgesamt hat Theweleit im Norden Frankreichs eine „sehr friedliche EM-Atmosphäre mit vielen internationalen, fröhlichen Begegnungen“ ausgemacht.

„Lille hätte auch als Teil des Sommermärchens 2006 super gepasst. Man vergisst ja gerne, dass es auch in Deutschland Ausschreitungen gab. Die Zahlen von damals sind in Frankreich noch lange nicht erreicht, aber der Blick ist intensiver auf alles, was Gewalt angeht.“ Polizisten in Schutzmontur und auf Pferden werden am Samstag und Sonntag wieder zum Stadtbild gehören. Tausende Sicherheitskräfte sind im Einsatz. Noch gibt es keine Einschränkungen der Präfektur. „Es sind ja keine Russen dabei. Sie haben uns Franzosen sehr, sehr negativ überrascht und waren deshalb unsere größte Sorge“, sagt Stéphanie Fasquelle.

Womöglich folgt noch eine Erklärung an diesem Freitag. Dann würden auch in der Redaktion von „La Voix du Nord“ vielleicht noch einmal umgeplant. Bislang wollen sie auf eine Sonderschicht verzichten. „Es wird wahrscheinlich nicht so bedrückend wie letztes Mal“, hofft Fasquelle. Es wäre ganz in ihrem Sinne. Es gibt viele Themen, über die sie gerne schreibt. Ausschreitungen von Fußballfans gehören nicht dazu.